[Kapitalmarkt-News vom 17. Juli 2019] Der deutsche Arbeitsmarkt wird zunehmend zum Gesprächsthema: Umstrukturierungsankündigungen großer Industriekonzerne sowie anhaltend schwache Produktionszahlen in vielen Branchen schüren die Sorge vor einem Stellenabbau. Einen spürbaren Anstieg der Arbeitslosenquote, die saisonbereinigt bisher nur marginal von 4,9 % im April auf 5,0 % im Mai und Juni angestiegen ist, erwartet bisher jedoch kaum ein Arbeitsmarktexperte. Welchen Dynamiken ist der deutsche Arbeitsmarkt unterworfen, und mit welcher Höhe der Arbeitslosenquote ist in den nächsten Monaten zu rechnen? Welche Wachstumsannahmen sind nötig, damit die grundsätzlich positive Entwicklung des Arbeitsmarktes bestehen bleibt?
Arbeitsmarkt sorgt für Margendruck und löst Gegenreaktion aus
Der deutsche Arbeitsmarkt erweist sich seit Jahren als erstaunlich robust. Selbst in den Jahren 2012 und 2013, als die Volkswirtschaft in Folge der Euro-Krise jeweils um weniger als 1 % gewachsen ist, ging die Arbeitslosenquote weiter zurück. Seit 2010 ist die Anzahl der Erwerbstätigen kontinuierlich von rund 41 Mio. auf 45 Mio. Personen gestiegen – obwohl die Lohnerhöhungen seit 2010 konstant über der Inflationsrate gelegen haben. Aktuell macht sich vermehrt die Sorge breit, der Arbeitsmarkt könnte angesichts der aktuellen Konjunkturflaute einknicken. Sprich: Die Arbeitslosenquote könnte stärker steigen, weil sich die Konjunkturerholung hinzuziehen scheint, denn noch sind keine konkreten Anzeichen einer Erholung vor allem der Industrieproduktion zu erkennen (s. IKB-Kapitalmarkt-News 9. Juli 2019). Aktuelle Prognosen signalisieren für 2019 ein BIP-Wachstum von unter 1 %. Zwar ist die Erwartung für 2020 mit einem BIP-Plus von deutlich über 1 % relativ solide. Doch wie wird das konjunkturell schwache Jahr 2019 den Arbeitsmarkt beeinflussen, und was würde eine unerwartete Verlängerung der Schwächephase bis ins Jahr 2020 bedeuten? Steht der Arbeitsmarkt vor einer möglichen Wende?
Ein schwaches BIP-Wachstum geht nicht nur mit einem geringeren Bedarf an neuen Arbeitsplätzen einher. Es ergibt sich auch bei gleichbleibender Belegschaft ein niedrigeres Produktivitätswachstum. Bei gleichzeitig hohen Lohnforderungen muss Raum für Produktivitätserhöhungen vorhanden sein, um den Anstieg der Lohnstückkosten in Grenzen halten zu können. So ist es nicht das schwache BIP-Wachstum allein, das aktuell zu einem deutlichen Anstieg der Lohnstückkosten führt, sondern es ist die Kombination aus der konjunkturellen Abkühlung und hohen Lohnabschlüssen. Wächst das BIP und steigt dementsprechend der Umsatz der Unternehmen kräftig, sind zunehmende Lohnkosten weniger ein Thema. Zum einen kann der Kostendruck weitergegeben werden, was Preise und damit auch die Inflationsrate anziehen lassen. Zum anderen sind höhere Kosten in einem Umfeld zunehmender Kapazitätsauslastung und voller Auftragsbücher kein Grund zur Sorge. Auch sorgt Nachfragewachstum indirekt für höhere Produktivität, was die Lohnstückkosten dämpft.
Die Lohnstückkosten steigen nun schon seit geraumer Zeit stärker als die Inflationsrate. Dies bedeutet entweder, dass andere Inputpreise wie die von importierten Vorleistungsgütern gefallen sind, oder dass die Gewinnmargen der Unternehmen unter Druck geraten sind. Tatsächlich sind die Preise von Importgütern seit 2016 tendenziell angestiegen. Dies gilt auch für Industrierohstoffe, sodass hohe Lohnforderungen in Kombination mit einem schwachen Wachstum durchaus Margendruck verursacht haben. Erst seit Ende 2018 dürfte sich dieser Druck infolge sinkender Rohstoffpreise etwas reduziert haben. So wurde die zunehmende Dynamik der Lohnstückkosten zumindest seit Anfang 2018 etwas gedämpft. Doch der Anteil der Arbeitnehmerlöhne am Volkseinkommen ist dennoch gerade 2018 deutlich angestiegen auf 69,0 %, im Vergleich zu 67,9 % im Jahr 2017. Das belastet das Gewinnpotenzial am Standort Deutschland. Bei einer schwachen Wachstumsentwicklung wird der Margendruck hoch bleiben und eine Gegenreaktion durch die Unternehmen provozieren. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Konjunkturerholung nicht, wie aktuell noch erwartet, gegen Ende dieses Jahres festigt, sondern die Schwächephase bis 2020 anhält. Bei relativ unflexiblen Löhnen dürfte dann die Anzahl der Erwerbstätigen abnehmen.
Ausblick Arbeitsmarkt – Konjunktur im Jahr 2020 wird entscheidend sein
Viele Unternehmen starteten mit überzogenem Optimismus ins Jahr 2019. Dieser zeigte sich vor allem in den Produktionsplänen und dem damit verbundenen erwarteten Produktionswachstum, das deutlich nach unten angepasst werden musste. So gehen aktuelle Industrieprognosen für 2019 von einem höheren Produktionsrückgang in allen bedeutenden Branchen aus, als noch zu Jahresanfang erwartet. In diesem Umfeld ist es nicht überraschend, dass die tatsächliche Anzahl der Erwerbstätigen aktuell bereits über dem zu erwartenden Niveau liegt. Industrieproduktion und BIP-Wachstum haben deutlich schneller abgenommen, als sich die Unternehmen auf die neuen Herausforderungen einstellen konnten. Noch mögen Fachkräftemangel und mittelfristige Planungsperspektive viele Unternehmen davon abhalten, kurzfristig mit einem Stellenabbau auf Umsatzeinbußen zu reagieren – vor allem wenn dieser Rückgang nur als temporär eingeschätzt wird.
Abb. 3 zeigt die tatsächliche und erwartete Anzahl der Erwerbstätigen auf Basis von IKB-Modellrechnungen. Im ersten Quartal 2019 waren demnach 370.000 mehr Arbeitskräfte beschäftigt, als angesichts von BIP-Wachstum und Lohnkosten zu erwarten war. Die Differenz zwischen den tatsächlichen und erwarteten Zahlen ist aufgrund des unerwartet schwachen BIP-Wachstumsverlauf und der eher zögerlichen Unternehmensreaktion nicht überraschend. Ein Stellenabbau dieser Größe (370.000 Personen) würde die saisonbereinigte Arbeitslosenquote von aktuell 5,0 % um rund 0,8 Prozentpunkte erhöhen. Ausgehend von den aktuellen Wachstumsprognosen (Basisszenario) wäre die erwartete Anzahl der Erwerbstätigen aufgrund der Konjunkturerholung allerdings bereits Anfang 2020 erneut auf dem aktuellen Niveau. Da Unternehmen eher abwartend agieren – besonders wenn sich eine stabilisierende Konjunkturentwicklung abzeichnet –, sollte der Rückgang der Erwerbstätigenzahl geringer ausfallen, als die IKB-Modellrechnung andeutet. Zwar mag in den kommenden Monaten durchaus ein weiterer, aber überschaubarer Anstieg der Arbeitslosenquote zu verzeichnen sein; die Erhöhung sollte sich allerdings nicht als bedeutend bzw. nachhaltig erweisen, und bereits im Verlauf von 2020 sollte die Arbeitslosenquote wieder sinken.
Bleibt die Konjunktur dagegen auch im Jahr 2020 eher schwach (Negativ-Szenario), wäre durchaus ein Anstieg der Arbeitslosenquote auf bis zu 6,5 % möglich, was 600.000 weiteren entfallenden Arbeitsplätzen entspricht – hierfür bedarf es insbesondere im nächsten Jahr allerdings einer negativen Konjunkturentwicklung.
Fazit:
Trotz der positiven Entwicklung der deutschen Arbeitslosenquote in den letzten Jahren reagiert der Arbeitsmarkt nach wie vor sensibel auf Konjunkturzyklen. Aktuell zeigen sich die Unternehmen zwar angesichts des Fachkräftemangels und der Erwartungen auf eine baldige Konjunkturbelebung zurückhaltend und abwartend beim Stellenabbau. Dies belastet jedoch in einem Umfeld niedriger Produktivität und kräftiger Lohnanstiege die Gewinnmargen der Unternehmen. Daher sollte die Arbeitslosenquote in den kommenden Monaten steigen – womöglich auf bis zu 5,8 %. Bei einer baldigen konjunkturellen Erholung wäre dieser Anstieg jedoch kurzfristig und könnte durchaus moderater ausfallen. Enttäuscht die Konjunktur hingegen auch im nächsten Jahr, ist 2020 eine Arbeitslosenquote von über 6 % möglich.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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