[Consumer & Retail-Information vom 4. März 2022]
Auch wenn es angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine und dem damit verbundenen Leid für viele Menschen keinesfalls das drängendste Problem ist, sind erste Auswirkungen des Konflikts auf internationale Lieferketten bereits spürbar. Zulieferer aus der Automobilbranche haben ihre Produktion in der Ukraine bereits vollständig eingestellt und der Transport fertiger Teile ist praktisch nicht mehr möglich. Als erste Konsequenz wurde bereits ein zwischenzeitlicher Produktionsstopp der Volkswagen-Werke in Dresden und Zwickau für diese Woche angekündigt.
Das Beispiel Automobilindustrie ist kein Einzelfall
Dass aufgrund des Konflikts in der Ukraine in Deutschland die Produktionsbänder vorübergehend still stehen ist derzeit eher die Ausnahme und beschränkt sich wie im Falle von Volkswagen zunächst auf ausgewählte Unternehmen einzelner Branchen. Allerdings geht die Sorge um, auch bei anderen Unternehmen und in weiteren Branchen könnte es zu Produktionsausfällen aufgrund fehlender Rohstoffe und Vorprodukte kommen. Der Fachpresse ist zu entnehmen, dass rund 1.300 europäische Unternehmen Lieferbeziehungen zu Tier-1-Lieferanten, also zu Direktlieferanten, aus Russland unterhalten. Weitere 400 europäische Unternehmen haben Tier-1-Lieferanten in der Ukraine. Dies entspricht zwar nur circa 0,8 % der europäischen Handelsbeziehungen, allerdings erhöht sich dieser Anteil auf 2,4 %, wenn man Lieferanten der zweiten und dritten Ebene miteinbezieht, also nachgelagerte Zuliefer- bzw. Wertschöpfungsstufen.
Bereits bestehende Herausforderungen werden weiter verschärft
Die durch die derzeitige Krise verursachten Problemen in den Lieferketten reihen sich neben den Herausforderungen ein, die die Branche aufgrund des anstehenden Transformationsprozesses bereits zu bewältigen hat (siehe dazu auch: IKB-Blog vom 30.09.2021). Bereits im vergangenen Jahr fehlten in Deutschland laut Bundesverband Güterverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) bereits zwischen 60.000 und 80.000 Lkw-Fahrer. Diese Lücke könnte durch die aktuelle Situation nochmals größer werden. Osteuropäische Speditionen, die in Deutschland einen nicht unerheblichen Teil des Lkw-Verkehrs ausmachen, müssen auf ukrainische Fahrer verzichten, die ihren Job niedergelegt haben, um zu ihren Familien zurückzukehren oder ihr Land zu verteidigen. Alleine in Polen sind laut Angaben des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) rund 100.000 ukrainische Fahrer beschäftigt. Der Anteil polnischer Lkw an der Fahrleistung in Deutschland beträgt wiederum rund 18 % und steht damit für die Hälfte der von ausländischen Speditionen ausgeführten Transporte.
Jedoch stellt nicht nur eine weitere Verschärfung des Fahrermangels in Deutschland ein substantielles Risiko für die Logistikbranche dar. Auch der dynamische Anstieg des Ölpreises ist eine enorme Belastung für deutsche Logistiker. Der Preis der Nordseesorte Brent hat sich im Gegensatz zum Corona-Tief im April 2020 mehr als vervierfacht und notiert derzeit bei rund 112 US-Dollar je Barrel (Stand: 04.03.2022). Gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies einen Anstieg um rund 67 %. In die gleiche Richtung zeigt auch der Dieselpreis: Im Januar 2022, also fast zwei Monate vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine, lag der Preis für Großverbraucher für 100 Liter Diesel laut BGL bei 128 € (ohne Umsatzsteuer) und damit um mehr als 33 % über dem Niveau des Vorjahresmonats.
Bei einem durchschnittlichen Gesamtkostenanteil der Kraftstoffkosten von rund 25 % (Modellrechnung des BGL) bedeutet dies binnen Jahresfrist eine Erhöhung der Gesamtkosten für Unternehmen im nationalen Fernverkehr um 8,3 %. Die IKB geht jedoch davon aus, dass der Preis für Rohöl der Sorte Brent bis zum Ende des Jahres bei einer Beruhigung des Konfliktes auf um die 85 US-Dollar sinkt und sich die Preisentwicklung für Kraftststoffe entsprechend entspannt.
Eine umfassende Einwertung möglicher Folgen fällt derzeit schwer
Angesichts der dynamischen Entwicklungen der letzten Tage und Wochen und der aktuell hohen Unsicherheit ist eine umfassende Einschätzung der Folgen für globale Lieferketten und die deutsche Logistikbranche kaum möglich. Zum jetzigen Zeitpunkt und unter dem Vorbehalt, dass sich der Konflikt nicht über die Ukraine hinaus ausbreitet, deutet vieles daraufhin, dass massive Verwerfungen ausbleiben werden, nicht zuletzt, weil der internationale Schiffsverkehr von dem Konflikt wahrscheinlich weitgehend unberührt bleibt. Einzelne Engpässe und Lieferschwierigkeiten, wie wir sie derzeit in der Automobilbranche sehen, sind allerdings auch im aktuellen Szenario künftig nicht auszuschließen. Der Konflikt wird vor allem für eine Verschärfung der Nachfrage nach qualifizierten Lkw-Fahrern in Deutschland und Europa sowie vorübergehend für weiter steigende Kraftstoffkosten sorgen und damit Logistikunternehmen zusätzlich belasten.
Dennis Rauen ist Prokurist im Sektorteam Consumer/Retail, Logistics & TMT der IKB. Er ist hauptsächlich verantwortlich für die Bereiche Holzwirtschaft, die Papier- und Verpackungsindustrie sowie ausgewählte Segmente des Non-Food Einzelhandels. Dort ist er involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Economics an der Universität zu Köln verbrachte er seine ersten Berufsjahre in der Industriegruppe Consumer & Retail der IKB, ehe er branchenübergreifende Corporate-Finance- und Transaktionserfahrung bei einer M&A-Beratung sammelte und 2025 wieder zur IKB stieß.
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