[Energy & Utilities-Information vom 27. Juni 2022]

Das Thema „Erdgas-Versorgungssicherheit in Deutschland“ dominiert sowohl die Agenda der energieintensiven Industrien als auch der Politik. Innerhalb weniger Wochen wurde diese in Frage gestellt und die Politik versucht mit allen Mitteln die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen zu reduzieren. Im Jahr 2020 importierte Deutschland noch 56,3 Mrd. m3 Erdgas aus Russland; das entspricht 55 % aller Erdgasimporte, aktuell sind es immer noch 35 %. Der Versorgungssicherheit wird dabei oberste Priorität eingeräumt, doch ohne die russischen Lieferungen kann diese schwer gewährleistet werden.

Physische Gaslieferungen nach Deutschland

Aktuell bezieht Deutschland Gaslieferungen aus Norwegen, Niederlande/Belgien, einer geringen Inlandsförderung sowie aus Russland. Erdgas aus Norwegen wird direkt über die Europipes I & II durch die Nordsee nach Deutschland transportiert. Die TENP-Pipeline aus den Niederlanden und Belgien fungiert als LNG-Gateway für Deutschland und ermöglicht den Transport von Gas aus den LNG-Terminals in den Niederlanden, Belgien und Frankreich nach Deutschland. Über die BEP-Pipeline besteht zudem ein weiterer Zugang zum Niederländischen Gasnetz. Bei den Pipelines mit Gas aus russischer Herkunft handelt es sich um die Jamal-Pipeline mit dem Übergangspunkt Deutschland-Polen, über die seit einiger Zeit schon kein Gas mehr nach Deutschland fließt, die TRANSGAS-Pipeline mit Übergangspunkt Deutschland-Tschechien und die Nord Stream I-Pipeline durch die Nordsee. Von letzteren waren die Flüsse nach Deutschland bis zum 14. Juni 2022 stabil, danach hat der russische Konzern Gazprom die Lieferungen um 60 % reduziert. Darüber hinaus agiert Deutschland als Drehscheibe für Gaslieferungen und leitet diese über ihr zentrales Pipelinenetzwerk an angrenzende europäische Länder weiter.

Europäische Infrastruktur nahezu vollständig ausgelastet

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine fand bereits ein Shift in den Erdgaslieferungen statt und der Erdgasbezug aus Norwegen und Niederlande/Belgien wurde infolgedessen maximiert. Eine weitere Erhöhung der Gasbezüge aus anderen Ländern ist aktuell nicht möglich, da die europäische Gasinfrastruktur an ihre Grenzen stößt und keine Alternativen existieren. Der Bau einer Pipeline beansprucht 3 bis 4 Jahre, wobei die Planungs- und Genehmigungsphase im Normalfall noch einmal mindestens genauso lange dauern kann. Alternativ besteht die Möglichkeit, zusätzlich Flüssiggas (LNG) über europäische LNG-Terminals zu beziehen und in das europäische Gasnetz einzuspeisen. Doch die für Deutschland relevante „send out capacity“ der LNG-Terminals, also deren Einspeisekapazität in das europäische Gasnetz ist nahezu maximal ausgelastet, zumal anliegende Länder ihre eigene Gasversorgung sicherstellen müssen. Einzig Spanien, das fast ausschließlich mit LNG versorgt wird, verfügt über ausreichende Mengen und Kapazität; jedoch ist es aufgrund physikalischer Hürden im europäischen Pipelinenetz nicht möglich, die benötigten Gasmengen von der iberischen Halbinsel nach Mitteleuropa zu transportieren. Infolgedessen entschied die Bundesregierung den Bau von vier LNG-Terminals in Deutschland, um die Abhängigkeit von ausländischen Terminals zu verringern und das Lieferantenportfolio zu diversifizieren. In einem ersten Schritt werden vier schwimmende LNG-Terminals, sogenannte FSRUs (Floating Storage and Regasification Units), an der Küste Deutschlands gechartert und in Betrieb gehen. Das über Spezialschiffe angelieferte LNG soll auf den FSRU regasifiziert und über einen Gasentladearm in das Gasnetz eingespeist werden.

Tabelle 1: LNG Infrastruktur Europa

Pfad zur Unabhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen

Mithilfe der eigenen LNG-Terminals, von denen die Hälfte schon zum Jahresende 2022 bzw. zu Beginn 2023 zur Verfügung stehen sollen, kann kurzfristig russisches Erdgas substituiert werden. Die Kapazität der Terminals wird in Summe jedoch nur 30 bis 50 % der bisherigen russischen Importmengen kompensieren können, sodass weitere Einsparungen in Form von Energieeffizienzmaßnahmen und Elektrifizierung zwingend erforderlich sind. Ein Effekt lässt sich bereits im Gasverbrauch diesen Jahres erkennen, der deutlich unter dem Vorjahr und dem langjährigen Durchschnitt liegt. Treiber dieses Rückgangs sind unter anderem der Brennstoffwechsel bei der Energieversorgung und der Industrie, der zum Teil auch aus wirtschaftlichen Gründen stattgefunden hat, um den hohen Gaspreisen entgegenzuwirken. Der für das Klima schädliche Brennstoffwechsel, wie der angestrebte Ersatz von Gaskraftwerken durch Kohle- und Ölkraftwerke (Betriebseinsatz), ist jedoch angesichts der Versorgungssituation kurzfristig unabdingbar. Der Trend zu geringerem Erdgasverbauch wird sich voraussichtlich auch im weiteren Jahresverlauf niederschlagen, zumal das Bundeswirtschaftsministerium zusätzlich mit einer groß angelegten Kampagne zum Energiesparen in der Industrie und den privaten Haushalten aufruft. Auch marktwirtschaftliche Instrumente wie Gasauktionen werden vorbereitet, um eventuellen Engpasssituationen im kommenden Winter vorzubeugen.

Gemäß den Plänen der Bundesregierung soll die Inbetriebnahme der LNG-Terminals in Kombination mit den Einspareffekten bis zum Sommer 2024 schrittweise eine geringere Abhängigkeit von russischem Gas ermöglichen (vgl. Zweiter Fortschritsbericht Energiesicherheit, BMWK).

Abbildung 1: BMWK Pfad zur Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Gas

Hohe Speicherfüllstände zum Winterbeginn realistisch?

Einerseits wirken also Brennstoffwechsel, geringerer Gasverbrauch und Ersatz von Gaskraftwerken zugunsten der Speicherstände, andererseits ist die politisch motivierte Reduzierung der Gasflüsse seitens Russlands ein Treiber zulasten der Speicherstände. Kombiniert man diese Effekte und unterstellt konstante Lieferungen der übrigen Gaslieferanten, wird nach den Berechnungen der Bundesnetzagentur durch die Drosselung in der Nord Stream I-Pipeline das Ziel eines 90 %-Speicherfüllstands bis Dezember 2022 nicht erreicht werden, aktuell liegt er bei ca. 60 %. Darüber hinaus findet an der Pipeline Nord Stream I im Juli eine geplante und turnusmäßige Wartung statt, die für 10 Tage die Gasflüsse dort vollständig stoppt. Die Bundesnetzagentur unterscheidet in ihrer Berechnung zwei unterschiedliche Szenarien: Vorausgesetzt, die Einspeisung aus Nord Stream I liegt in diesem Jahr ganzjährig bei 40 %, es erfolgt keine Reduktion der Exporte an europäische Nachbarländer und der Verbrauch in Deutschland sinkt ab Juli 2022 um 20 %, würden zwar die gesetzlichen Speicherziele nicht erfüllt werden, eine Gasknappheit würde jedoch knapp vermieden werden. Das andere Szenario unterstellt einen vollständigen Stopp der Gasflüsse durch Nord Stream I nach der Wartung im Juli. In diesem Fall würde es zu Beginn nächsten Jahres trotz Verbrauchsreduktion und LNG Terminals zu einer Gasknappheit kommen (Quelle: BNetzA Gas-Mengengerüst von 06/22 bis 06/23)

Im Falle einer Gasmangellage wird primär die Industrie leidtragender der Versorgungssituation sein, da diese gemäß dem „Notfallplan Gas“ nicht zu den geschützten Kunden zählt. Geschützte Kunden sind demnach Letztverbraucher mit Eigenverbrauch bzw. beruflichen, landwirtschaftlichen oder gewerblichen Zwecken mit max. 10.000 kWh im Jahr. Welche Unternehmen im Zweifelsfall Kürzungen an ihrem regulären Erdgasbezug von bis zu 40 % verkraften müssen, würde die Bundesnetzagentur dann anhand verschiedener vorgestellter Kriterien entscheiden müssen (Quelle: BNetzA Lastverteilung Gas).

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Dr. Klaus Bauknecht                  Volkswirtschaft

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