[Kapitalmarkt-News vom 11. Juli 2023]
Fazit: Die aktuelle Konjunktureintrübung könnte durchaus auch mittelfristig Folgen haben. Dies gilt vor allem für das verarbeitende Gewerbe, das schon in den letzten Jahren durch strukturelle Produktionsrückgänge am Standort Deutschland belastet war. Die Chemie- und Automobilindustrie sind Branchen, die besonders vom strukturellen Gegenwind betroffen sind. Doch aktuell ist kein Konjunkturprogramm erforderlich, sondern eine grundsätzliche Verbesserung der Investitionsrendite am Standort Deutschland. Private Investitionen müssen sich trotz der konjunkturellen sowie strukturellen Herausforderungen lohnen – vor allem im internationalen Vergleich. Nur so wird eine perspektivische Konjunkturerholung zu einem Wachstumsschub für die deutsche Volkswirtschaft.
Interpretation von Konjunkturdaten wird durch strukturelle Schwächen erschwert
Aktuell wirken verschiedene Kräfte auf die deutsche Industrie. Hohe Energiekosten, strukturelle Anpassungen wie z. B. infolge der Klimapolitik, des Fachkräftemangels und des Investitionsstaus, aber auch eine deutlich erkennbare Konjunktureintrübung sind bedeutende Herausforderungen. Andere Faktoren, wie Lieferengpässe und stabile Wertschöpfungsketten geraten zunehmend in den Hintergrund. Dies gilt im Übrigen auch weltweit, wie jüngste Stimmungsindikatoren signalisieren. Die Vielzahl von Herausforderungen erschwert die Interpretation monatlicher Daten: Deutet ein monatlicher Richtungswechsel eine nachhaltige Trendwende an; ist dies ein Anzeichen konjunktureller Veränderung, oder ist es einfach nur Volatilität der Daten? Es besteht die Gefahr, dass die monatliche Verschlechterung konjunktureller Daten eher als Beweis struktureller Hemmnisse und nicht als kurzfristige Dynamik angesehen wird und so für eine erhöhte negative Stimmung sorgt. Also: Die Konjunktureintrübung führt zu einem überzogen negativen Stimmungsbild, was die die Abkühlung weiter verschärfen könnte. Dies wird durch geopolitische Entwicklungen wie den Ukrainekrieg noch verstärkt. So argumentiert auch das Institut der deutschen Wirtschaft, dass die schwachen deutschen Exportzahlen nach China im ersten Quartal 2023 womöglich eher strukturell als konjunkturell bedingt sind. Die Sorge vor anhaltende Veränderungen bestimmt zunehmend die Einschätzung aktueller Daten. Die deutliche Stimmungseintrübung wie z. B. des ifo Geschäftsklima ist ein Indiz von gegenseitig verstärkenden Dynamiken.
Die Produktion der deutschen Industrie scheint aber tatsächlich schon länger von strukturellen und nicht nur konjunkturellen Themen bestimmt zu sein. So zeigt die Inlandsfertigung schon in den letzten Jahren einen grundsätzlich anderen Verlauf als die Weltproduktion. Und aktuell könnten sich strukturelle und konjunkturelle Faktoren verstärken. Denn die grundsätzliche Wachstumsschwäche aufgrund von Angebotsproblemen wie der Fachkräftemangel wird durch eine sinkende Nachfrage verstärkt. Die Konjunktureintrübung sorgt deshalb nicht nur für eine überzogen negative Stimmung. Sie engt auch den Handlungsspielraum der Unternehmen ein, strukturelle Herausforderungen anzugehen. Dies ist daran zu erkennen, dass trotz der notwendigen Neugestaltung des Kapitalstocks aufgrund der CO2-Ziele eine zurückhaltende Investitionsbereitschaft am Standort Deutschland existiert. Diese wird sich in einer Rezession und bei zunehmenden Margendruck infolge von höheren Lohnforderungen kurzfristig kaum verbessern.
So kann die aktuelle Konjunktureintrübung nachhaltige Effekte für den Industriestandort haben. Der Glaube, die Konjunktur habe nur einen temporären Effekt und strukturelle Herausforderungen einen mittelfristigen, ist neu zu überdenken. Weil die aktuelle Konjunktureintrübung die strukturelle Neuausrichtung bremst und Produktionsrückgänge bzw. Standortverlagerung forciert, sind die Konsequenzen durchaus mittelfristig zu sehen. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich die Konjunkturschwäche aufgrund höherer Zinsen und einer damit weniger unterstützenden Geld- und Fiskalpolitik hinziehen wird; eine relativ schnelle Erholung ist nicht zu erwarten. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Konjunkturentwicklung aktuell als negativer Katalysator für positive strukturelle Anpassungen zu sehen ist. Perspektive ist jedoch gefragt. Denn noch erweist sich das deutsche BIP-Wachstum als stabil: Empirisch ist es eine stationäre Zeitreihe um einen Durschnitts- bzw. Erwartungswert von 1,2 %. Das bedeutet, weder strukturelle Anpassungen noch verschiedene Krisen haben in den letzten 30 Jahren nachhaltige Disruptionen dahingehend verursacht, dass sich der Erwartungswert des deutschen Wachstums verändert hat. Bei all der Sorge vor strukturellen Herausforderungen hat sich die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes stabil gehalten. Dies kann auch als Erfolg der Krisenpolitik angesehen werden. Betrachtet man allerdings nur das verarbeitende Gewerbe, ist das Bild weniger überzeugend.
Verarbeitendes Gewerbe – Gleichlauf negativer Kräfte braucht entscheidendes Handeln
Zwar scheint auch das Wachstum des verarbeitenden Gewerbes statistisch stabil zu sein. Allerdings sind im Gegensatz zum BIP-Wachstum klare strukturelle Brüche erkennbar. Das durchschnittliche Wachstum hat sich über die Zeit deutlich verändert. Lag das Wachstum zwischen 2000 und 2015 im Durchschnitt bei ca. 2 %, hat es sich seit 2015 und trotz der Aufholeffekte nach der Corona-Pandemie auf 0 % reduziert. Die längste Wachstumsphase ergab sich nach der Rezession von 2002/2003 und der Umsetzung der Agenda 2010. Zwischen 2003 und 2007 betrug das jährliche Wachstum 4 %. Dies war auch eine Phase eines starken weltwirtschaftlichen Wachstums.
Im Mai 2023 ist die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes lediglich um 0,4 % angestiegen, es stagnierte also nahezu. Ist dies ein Zeichen einer Wende, nachdem sich die Produktion seit Jahresanfang erholen konnte? Stimmungs- und Konjunkturindikatoren, Auftragseingänge sowie strukturelle Anpassungen wie Produktionsverlagerung würden alle auf eine erneute bzw. tendenzielle Abschwächung der Produktion hindeuten. Auch ist auf Grundlage der negativen Wachstumsdynamik der letzten Jahre von keinem stabilen Wachstumsanker auszugehen. So ist der Verlauf der monatlichen Daten des verarbeitenden Gewerbes doch kritisch zu sehen. Denn angesichts des Potpourris an Herausforderungen besteht ein hohes Abwärtsrisiko, was die Produktion des verarbeitenden Gewerbes angeht. Dies gilt kurz- wie mittelfristig.
Eine zurückhaltende Investitionsbereitschaft im Umfeld einer rückläufigen Nachfrage wird das Wachstumspotenzial des verarbeiten Gewerbes auch mittelfristig belasten. Zudem wird angesichts struktureller lokaler Wachstumsbremsen eine perspektivische globale Konjunkturerholung vermehrt zu Produktionsverlagerungen führen. Was ist zu tun? Die risikoadjustierte Renditeerwartung für Investitionen am Standort Deutschland muss ausreichend und im internationalen Vergleich attraktiv sein. Investitionen müssen sich trotz hoher Energiekosten, steigender Lohnkosten und strikter CO2-Vorgaben lohnen. Denn nur so wird ein Anreiz zu mehr lokalen Investitionen im Vergleich zu anderen internationalen Standorten wie z. B. die USA, Asien oder auch Osteuropa geschaffen. Auch wird nur so die Transformation zur Klimaneutralität durch den Privatsektor gelingen. Es sind also die strukturellen Herausforderungen, die angegangen werden müssen: Planungssicherheit sowie wettbewerbsfähige Kostenstrukturen bzgl. Energie und Fachkräfte sind wichtige Faktoren. Die ausreichende Verfügbarkeit von Fachkräften benötigt dabei eine breit angelegte Strategie. Kurzfristig mag die Senkung der effektiven Unternehmenssteuer eine wichtige Stellschraube sein; ein Anreiz für mehr Investitionen, wie es auch der Inflation Reduction Act der USA vormacht.
Chemie und Automobilindustrie im Fokus
Branchen des verarbeitenden Gewerbes werden unterschiedlich stark von strukturellen sowie konjunkturellen Faktoren beeinflusst. Rohstoffnahe Branchen profitieren aktuell von sinkenden Rohstoffpreisen. Energieintensive Branchen sind hingegen durch hohe Energiekosten belastet, die sicherlich eine strukturelle Komponente am Standort Deutschland beinhalten. Konjunktursensitive Branchen erfahren hingegen einen besonders deutlichen Nachfragerückgang. Die Chemieindustrie ist besonders betroffen. Sie ist nicht nur energieintensiv und rohstoffnah, sondern auch ein Produzent von Vorleistungsgütern, was sie besonders konjunktursensitiv macht. Ähnliches gilt sicherlich auch für die Stahlindustrie. Beide sind auch durch strukturelle Herausforderungen wie die Klimaziele betroffen. Dies gilt auch für die Automobilindustrie, deren Nachfrage ebenfalls besonders konjunktursensitiv ist. Für all diese Branchen ergibt sich aktuell ein Mix an Herausforderungen, die den Standort Deutschland kurz- wie mittelfristig belasten.
So ist die Produktion in der Chemieindustrie (ohne Pharma) im Mai um 5,5 % zum Vormonat zurückgegangen. Im Vergleich zu Januar 2022 liegt das Minus bei 16 %. Das aktuelle Produktionsniveau entspricht dem von August 2009! Der Abwärtstrend ist besonders seit 2022 ausgeprägt. Doch bereits seit der Finanzkrise ist ein negativer Trend zu erkennen. Der strukturelle Gegenwind wird besonders im Vergleich zum gesamten Verarbeitenden Gewerbe sichtbar. Die Dynamik der Chemieproduktion ist seit der Finanzkrise 2009 weniger von der allgemeinen Entwicklung des verarbeitenden Gewerbes, sondern vielmehr von einem negativen langfristigen Trend gekennzeichnet. Dieser Trend hat durch strukturelle Faktoren wie hohe Energiekosten und die Einhaltung der Klimaziele an Bedeutung gewonnen.
In der Automobilindustrie dominieren aktuell positive konjunkturelle Dynamiken. Die Produktion lag im Mai fast 5 % über dem Vormonat und 18 % über dem Niveau von Anfang 2022. Noch geben Aufholeffekte und die Abarbeitung von Bestellungen Auftrieb. Die strukturellen Herausforderungen dieser Branche sind angesichts neuer Antriebstechnologien allerdings bestens bekannt, ebenso wie die anhaltende Verlagerung der Wertschöpfung ins Ausland. So lag die inländische Produktion im Mai rund 14 % unter dem Niveau von Anfang 2018 und in etwa auf dem Niveau von 2010. Mit der aktuellen Konjunktureintrübung dürften sich nun konjunkturelle und strukturelle Dynamiken auch für die Automobilindustrie verstärken. So besteht Gefahr, dass sich der negative Produktionstrend der letzten Jahre durch eine Konjunktureintrübung verstärkt. Die aktuelle Erholung der Produktion am Standort Deutschland sollte deshalb zunehmend Gegenwind erhalten.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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