[Kapitalmarkt-News vom 6. Oktober 2022]
Fazit: Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes wird in den kommenden Monaten spürbar unter Druck geraten. Hierfür sind vor allem zwei Treiber verantwortlich: Zum einen eine nachlassende Nachfrage, die sich mehr und mehr in rückläufigen Auftragseingängen zeigt; das hohe Niveau der Auftragseingänge der letzten Monate wird daran wenig ändern. Zum anderen wird die unterliegende Erzeugerpreisinflation nachlassen. Der Anstieg der Erzeugerpreise im letzten und diesem Jahr hat die Produktion gestützt, denn Unternehmen konnten steigende Kosten weitergeben. Nun baut sich im Schatten eskalierender Energiekosten und nachlassender Nachfrage Margendruck auf, der die Produktion belasten wird. Angebot sowie Nachfrage werden sich deshalb negativ auf das Produktionsniveau auswirken, und selbst der mittelfristige Ausblick für den Produktionsstandort Deutschland dürfte sich eintrüben.
Die Auftragseingänge sind im August deutlich um 2,4 % zum Vormonat gesunken. Auch wenn hierfür Sondereffekte verantwortlich sind und sich ohne Großaufträge ein leichtes Plus ergeben hätte, sind seit März die gesamten Bestellungen in der Tendenz klar rückläufig. Das Bestellniveau blieb aber trotz der Rückgänge hoch, was oft als positives Signal für die deutsche Industrieproduktion gewertet wird. Doch was ist die Aussagekraft der Auftragseingänge, und wie wird die Produktion in den kommenden Monaten verlaufen?
Die Mehrzahl der Prognosen geht von einer Rezession der deutschen Wirtschaft aus. Grundsätzlich wird aktuell ein BIP-Rückgang für das Gesamtjahr 2023 erwartet. Doch für das Verarbeitende Gewerbe, das historisch eine hohe Volatilität und spürbare Produktionsrückgänge in Rezessionsphasen gezeigt hat, scheint der Ausblick weniger negativ zu sein. Dieser Optimismus beruht u. a. auf den Auftragseingängen bzw. -beständen. Das deutsche Verarbeitende Gewerbe verfügt über volle Auftragsbücher, was sie über die Rezession hinweg tragen sollte – so das Argument. Voraussetzung ist natürlich, dass Lieferengpässe die Abarbeitung der Aufträge nicht weiter behindern. In der Tat stellten bis dato vor allem das fehlende Angebot bzw. Lieferprobleme die Wachstumsbremse dar – und weniger Nachfrageprobleme. Jetzt, wo die Nachfrage im Schatten der lokalen wie globalen Konjunktureintrübung nachlässt und eskalierende Kosten immer weniger weitergegeben werden können, ist es jedoch Angebot und Nachfrage, die die Abarbeitung der Aufträge und damit auch den Ausblick für das Verarbeitende Gewerbe belasten. So werden in den kommenden Monaten nicht nur die Auftragseingänge infolge des Konjunktureinbruchs weiter zurückgehen. Viele bestehende Aufträge werden infolge des Margendrucks und mangelnder Nachfrage storniert bzw. nicht bearbeitet. Welche Aussagekraft haben die jüngsten Auftragseingänge in diesem Umfeld für die Produktion am Standort Deutschland?
Auftragseingänge als Frühindikator der Industrieproduktion
Auftragseingänge werden oft als Frühindikator für die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes gesehen. Die Aufträge von heute zeigen sich also in den Produktionszahlen der kommenden Monate. Und in der Tat bestätigen empirische Analysen, dass vor allem aktuelle, aber auch die Auftragseingänge der letzten Monate einen Erklärungsgrad für die aktuelle Produktion bilden. Allerdings war diese Beziehung während der letzten Jahre nicht stabil. So ergeben sich in der Beziehung Unterschiede für die Zeiträume vor und nach der Finanz- bzw. Eurokrise, aber auch vor und nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Vor allem seit dem Ausbruch der Pandemie scheint sich ein größerer Bruch zu ergeben. Der geschätzte Koeffizient für Produktion und Auftragseingänge wird während des untersuchten Zeitraums und insbesondere nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie kleiner. Also der Einfluss bzw. Erklärungsgrad der Auftragseingänge auf die deutsche Produktion lässt nach. Der geringere Einfluss erklärt auch die aktuelle Diskrepanz zwischen Produktion und Auftragseingängen. So müsste gemäß historischem Verlauf die Produktion aktuell um einiges höher liegen. Da jedoch der Einfluss der Auftragseingänge auf die lokale Produktion vor allem seit Ausbruch der Pandemie nachgelassen hat, überschätzen historisch geschätzte Koeffizienten das tatsächliche Produktionsniveau.
Die Erklärung hierfür ist: deutsche Unternehmen bekommen zwar Aufträge, können diese aber zunehmend wegen Lieferengpässen nicht bedienen. Das Ergebnis ist ein deutlicher Anstieg des Auftragsbestands seit Anfang 2020. Ein weiterer Grund, insbesondere seit der Finanzkrise, liegt darin, dass die Wertschöpfung zunehmend mit der ausländischen Produktion und weniger mit der lokalen erbracht wird. So bekommen zwar deutsche Unternehmen die Aufträge, die Wertschöpfung des Unternehmens findet aber zunehmend außerhalb Deutschlands statt, oder das Unternehmen bedient sich mehr und mehr bei globalen Lieferanten und verfügt in Deutschland nur noch über eine geringe Wertschöpfung. Somit sind es kurzfristige, aber auch strukturelle Themen, die die Produktion am Standort Deutschland belasten. Aktuell kommt hinzu, dass Aufträge angesichts der Kostenlage nicht mehr rentabel sind und deshalb nicht abgearbeitet werden. So mag zwar laut Abb. 1 eine große Diskrepanz zwischen Auftragseingängen und Produktion bestehen. Dies ist allerdings kein Indiz für einen „Auftragspuffer“, der die lokale Produktion in den kommenden Monaten stützen wird. Zudem sinken die Auftragseingänge nun schon länger, und die Schere zwischen Aufträgen und Produktion schließt sich. Dies wird durch jüngste Daten der Auftragseingänge bestätigt.
Oft wird auch auf die Veränderungen der Auftragseingänge als Erklärung der Produktion verwiesen. Und in der Tat kann die Veränderung der aktuellen Auftragseingänge eine Veränderung der Produktion relativ gut erklären. Allerdings nur die aktuelle Produktion. Veränderungen in den Vormonaten haben empirisch keinen nennenswerten Erklärungsbeitrag. Diese Beziehung erweist sich als einiges stabiler als eine Schätzung der Niveaus. So haben sich die monatlichen Rückgänge der Auftragseingänge negativ auf die Produktion ausgewirkt – unabhängig vom Niveau der Auftragseingänge. Auch sind die Schätzungen für den gesamten Zeitraum (1991 bis 2022) stabil, und die Größe des Koeffizienten ist ähnlich wie der in der Schätzung mit Niveaus seit des Corona-Ausbruchs. Beide Modelle deuten darauf hin, dass wenn Auftragseingänge um 1 % sinken, die Produktion mit rund 0,5 % nachlässt. Abb. 2 zeigt die Produktion und Modellschätzung auf Grundlage von Veränderungen der Auftragseingänge.
Einschätzung: Die relativ zur Produktion hohen Auftragseingänge sind kein Indiz für eine robuste zukünftige Produktion, denn der Einflussgrad der Auftragseingänge auf die deutsche Produktion des Verarbeitenden Gewerbes hat über Jahre nachgelassen. Entscheidend sind vielmehr die Veränderungen der Auftragseingänge. Sinken sie, lässt die Produktion am Standort Deutschland nach. Der Auftragsrückgang der Industrie seit März 2022 belastet somit die Produktion, während das hohe Niveau der Aufträge weniger entscheidend ist. Wird die Abarbeitung von Lieferengpässen zu einer spürbaren Produktionssteigerung führen? Auf Grundlage von Abb. 2 scheint dies weniger der Fall zu sein, es sei denn, es ergibt sich ein Anstieg der Auftragseingänge infolge von Erwartungen, dass Aufträge auch abgearbeitet werden können. Dies mag nicht völlig auszuschließen sein. Kurzfristig ist jedoch das Bild eindeutig: Eine spürbare Konjunktureintrübung wird Auftragseingänge aus dem In- und Ausland und damit die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes belasten – unabhängig von der Höhe der Auftragseingänge in den Monaten zuvor.
Steigende Erzeugerpreise – Positiv oder negativ für die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes?
Lieferengpässe und daraus folgende steigende Kosten könnten einen zunehmenden Teil der Aufträge als nicht realisierbar erscheinen lassen. Auch können aktuell Preisanstiege insbesondere bei den Rohstoffen viele Aufträge aus ökonomischer Sicht wenig realisierbar gestalten. So deuten die hohen Anstiege der Erzeugerpreise auf der einen Seite darauf hin, dass Unternehmen Preise weitergeben können, was sich positiv auf die Produktion auswirkt. Gleichzeitig signalisieren die Erzeugerpreise jedoch auch eskalierenden Kostendruck bzw. die Folgen von Lieferengpässen, was sich wiederum negativ auf die Produktion auswirken sollte. Dies gilt vor allem im aktuellen Umfeld einer sich aufbauenden Nachfrageschwäche, die eine Weitergabe des Kostendrucks immer schwieriger werden lässt.
Doch was ist der Einfluss der Erzeugerpreisinflation auf die Produktion? Empirische Schätzungen bestätigen einen positiven Einfluss steigender Erzeugerpreise auf das Produktionsniveau. Steigende Preise aufgrund von Lieferengpässen und damit reduzierter Produktion scheinen eine untergeordnete Rolle zu spielen. So hat die anfängliche Phase der zunehmenden Erzeugerpreise vor allem in der ersten Hälfte 2022 die Produktion nicht belastet. Im Gegenteil, die höheren Kosten konnten weitergeben werden und die Gewinnmargen blieben stabil. Dies sollte sich allerdings im Schatten einer nachlassenden Nachfrage ändern. Vorausschauend werden Erzeugerpreise aus zwei Gründen nachlassen. Zum einen werden Kosten durch die Unternehmen absorbiert und zu Margendruck führen, zum anderen werden im weiteren Verlauf nachlassende Rohstoffpreise den Inflationsdruck dämpfen. Beides ist die Folge einer Konjunktureintrübung und wird deshalb die Produktion belasten – und dies womöglich nicht nur in den kommenden Monaten. Denn anhaltend hohe Energiepreise werden in einem globalen intensiven Wettbewerbsumfeld eher die Gewinnmargen und damit die Angebotsseite nachhaltig belasten als für anhaltend hohe Erzeugerpreisinflation in Deutschland zu sorgen. Dies gilt vor allem in einem Umfeld einer nachlassenden Nachfrage. Würden Bestellungen hingegen wieder zulegen, wäre die Nachfrage robust und Preise würden zu keinem Margendruck, sondern weiterem Inflationsdruck führen. Davon ist allerdings im Schatten einer Nachfrageschwäche und steigender Zinsen nicht auszugehen.
Einschätzung: Die Produktion wird in den kommenden Monaten aus verschiedenen Gründen spürbar unter Druck geraten, auch wenn einzelne Monatsdaten sicherlich positiv ausfallen können. Zum einen wird der erwartete Rückgang der Auftragseingänge belasten. Zum anderen wird der zunehmende Margendruck infolge hoher Kosten zu Produktionsrückgängen und einer nachlassenden Erzeugerpreisinflation führen. Dies sind notwendige und aus Notenbanksicht gewollte Prozesse, um den allgemeinen Inflationsdruck zu dämpfen. Für die Unternehmen ergeben sich dann allerdings erhebliche Belastungen, sodass mit einem Anstieg von Unternehmensinsolvenzen zu rechnen ist. Denn auch wenn das Bruttoinlandsprodukt mit nur rund 1 % im Jahr 2023 sinken sollte, ist das Umfeld angesichts des Kosten- und Margendrucks durchaus herausfordernd. Die aktuelle Entwicklung wird deshalb auch strukturelle Folgen für den Standort Deutschland mit sich bringen, was die Produktion womöglich nachhaltig belasten könnte.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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