[Kapitalmarkt-News vom 29. April 2021]
Fazit: Aktuell ist die Nachfrage nach Gütern des deutschen Verarbeitenden Gewerbes in einem nie zuvor dagewesenen Ausmaß höher als die Produktion. Dies hat weniger mit einer gewollten langsameren Abarbeitung von Aufträgen zu tun. Es sind vielmehr Engpässe in den Lieferketten, die zusammen mit einer äußerst dynamischen Erholung der Nachfrage unweigerlich Preisdruck im Verarbeitenden Gewerbe verursachen und so den aktuellen Inflationsanstieg stützen.
Die Diskrepanz zwischen Produktion und Nachfrage ist vor allem in der Automobilindustrie und der Produktion von IT-Produkten sowie bei elektronischen Geräten ausgeprägt. Branchen wie Chemische Industrie oder Maschinenbau sind weniger betroffen. Ob dieses Ungleichgewicht zu spürbar höheren Investitionen am Produktionsstandort Deutschland führen wird, bleibt allerdings abzuwarten. Ein nachhaltiger Inflationsanstieg sollte sich hingegen nicht ergeben.
Auftragseingänge und Nachfrage zeigen V-Erholung
Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes ist im Januar und Februar 2021 gesunken und zeigt bereits länger eine eher verhaltene Entwicklung. Noch immer ist das Niveau relativ niedrig und weit von dem des Vorkrisenjahres 2019 entfernt. Die Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe haben sich hingegen trotz der Lockdown-Maßnahmen außerordentlich gut entwickelt und befinden sich bereits deutlich über Vorkrisenniveau. Dies gilt sowohl für Bestellungen aus dem In- wie aus dem Ausland. Ursache für die sinkende Produktion bzw. die geringe dynamische Erholung ist damit nicht die zu geringe Nachfrage. Die Probleme scheinen eher auf der Angebotsseite zu liegen. Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang oftmals erwähnt wird, sind Engpässe bei Zulieferern. So mögen zwar viele Unternehmen volle Auftragsbücher haben, sie können jedoch aufgrund von Lieferengpässen nicht in der gewohnten Zeitspanne liefern bzw. die Produktion hochfahren, um der dynamischen Nachfrageentwicklung gerecht zu werden. Vielfach wird auch davon ausgegangen, dass Unternehmen der guten Auftragslage nicht trauen und die Bestellungen nur langsam abarbeiten, um ihre Produktion stabil zu halten. Lassen sich diese Einschätzungen empirisch belegen, und was sind die Konsequenzen?
Produktionserholung weniger dynamisch als Nachfrage, …
Eine divergierende Entwicklung zwischen Angebot und Nachfrage ist seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zu beobachten; sie hat im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2020 sogar noch zugenommen. Vor allem seit dem vierten Quartal 2020 ist der Unterschied zwischen tatsächlicher und der auf Grundlage der Auftragseingänge erwarteten Produktion so unterschiedlich, wie es seit 1991 (Beginn des Beobachtungszeitraums) bzw. damit seit rund 30 Jahren nicht der Fall war. Es gab zwar schon immer Phasen, in denen die erwartete Produktion über oder unter dem eigentlichen Niveau lag. Doch noch nie hat das solche Dimensionen wie in den letzten Monaten angenommen. Die aktuelle Entwicklung ist nicht nur vom Ausmaß und damit von der statistischen Signifikanz um ein Vielfaches bedeutender, sie scheint sich zudem auch länger hinzuziehen: Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes müsste schon seit einigen Monaten deutlich höher ausfallen.
In der Finanzkrise 2008/09 war die Entwicklung umgekehrt. Es wurde deutlich mehr produziert, als es die einbrechenden Auftragseingänge angedeutet hatten – Unternehmen produzierten weiter, obwohl die Nachfrage nach September 2008 überraschend stark wegbrach. Die Folge waren kurzfristig steigende Lagerbestände, gefolgt von einem relativ schnellen und kräftigen Zurückfahren der Produktion, sodass sich im Rezessionsjahr 2009 Angebot und Nachfrage wieder relativ schnell angleichen konnten. Damals hielt die anfängliche Unterschätzung der Krise auf Unternehmensseite nicht lange an.
Was ist der Grund für den aktuellen Nachfrageüberschuss? Das Ausmaß der in Abb. 2 angezeigten Diskrepanz deutet auf eine bedeutende Änderung des Unternehmensverhaltens im Vergleich zur Finanzkrise 2008/09 hin. Nach mehreren Krisen könnte sich das unternehmerische Handeln dahingehend gewandelt haben, dass Unternehmen risikoaverser sind und eher reagieren als agieren. Sie könnten grundsätzlich von einem weiterhin volatilen und wenig berechenbaren Umfeld ausgehen. Die schnelle Erholung der Nachfrage würde demnach als nicht nachhaltig angesehen, und Aufträge würden gehortet werden. Allerdings ist zu bezweifeln, dass ein solches Verhalten bei einem wirtschaftlich handelnden Unternehmen und stabilem dynamischen Nachfragewachstum tatsächlich länger anhalten würde.
… was auf Lieferengpässe zurückzuführen ist
Auch Engpässe von Zulieferteilen bzw. Vorprodukten lassen keine ausreichend schnelle Produktionserholung bzw. -erweiterung zu. Dies könnte vor allem dann von Relevanz sein, wenn der Nachfrageanstieg äußerst dynamisch ist und relativ schnell das Vorkrisenniveau wieder erreicht bzw. übersteigt. Im Kontext der Corona-Pandemie findet dieses Argument zusätzliche Unterstützung, da von fragilen Lieferketten und Unterbrechungen infolge von Lockdown-Maßnahmen ausgegangen werden kann. Zudem haben Verschiebungen im Konsumverhalten – weg von Dienstleistungen, hin zum Kauf von mehr Gütern –, die Frachtkapazitäten an ihre Grenzen gebracht. Wie immer auch argumentiert werden mag, der in Abb. 2 ersichtliche Unterschied zwischen der Finanz- und Coronakrise deutet auf ein grundsätzlich anderes Verhalten der Angebotsseite hin. Während nach der ersten Welle der Corona-Pandemie eine V-Erholung für einen anfänglich schnellen Produktionsanstieg sorgte, brauchte es im Falle der Finanzkrise deutlich länger. Auch dies spricht aktuell eher für Lieferengpässe bei Vorprodukten für die Industrie als für eine kontrollierte Produktionsverzögerung. Schließlich ergab sich das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage erst im weiteren Verlauf der Nachfrageerholung. Unternehmen haben im Verlauf von 2020 sehr wohl versucht, die stark zunehmenden Auftragsbücher abzuarbeiten.
Die Anzahl der Industrieunternehmen, die mit Lieferkettenproblemen kämpfen, hat sich laut Bundesbankumfrage von Mitte 2020 bis Januar 2021 auf fast 20 % verdoppelt. Dabei haben Störungen bei Lieferketten im Verlauf des Jahres 2020 weiter zugenommen. Zu vermuten wäre gewesen, dass die Probleme nach dem nahezu weltweiten Lockdown im Frühjahr 2020 eher abgenommen haben. Die Bundesbank spricht in diesem Zusammenhang von einer möglichen Akkumulation von Lieferkettenstörungen. Die Studie zeigt, dass Probleme im Produzierenden Gewerbe insbesondere bei Herstellern von Produktions- und Investitionsgütern zu finden sind. Empirische Analysen der IKB zeigen, dass die größte Abweichung zwischen Angebot und Nachfrage im Automobilsektor, bei IT-Produkten und elektronischen Geräten zu finden ist. Angesichts der globalen Lieferketten und der hohen Vernetzung der globalen Wertschöpfung ist das nicht überraschend. Insbesondere die Engpässe bei Halbleitern dürften hier zu Problemen geführt haben. Weniger ausgeprägt sind die Abweichungen in der Chemieindustrie und bei elektrischen Ausrüstungsgütern und Geräten. Es besteht auch kaum eine ersichtliche Diskrepanz im Maschinenbau. In dieser Branche mit hoher inländischer Wertschöpfung liegen Produktion und durch Auftragseingänge geschätzte Nachfrage relativ gleichauf. In der Metallindustrie ist es vor allem die Metallbearbeitung und -erzeugung, die der Nachfrage aktuell hinterhereilt.
Inflationsdruck infolge von Lieferengpässen wird empirisch bestätigt
Schieben Unternehmen die Nachfrage vor sich her, ergibt sich kurzfristig kaum Inflationsdruck. Denn Ziel ist es dann nicht, durch Preisanpassungen Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen. Stattdessen werden Kunden „hingehalten“, um eine stabile Produktion sicherzustellen. Existieren aktuell allerdings Engpässe, und Güter können nicht geliefert werden, würde dies für einen spürbaren Preisanstieg sprechen, der den Charakter einer Stagflation aufweist. Also: Eine nicht ausreichende Produktion führt zu steigenden Preisen. Empirische Analysen deuten in der Tat daraufhin, dass der aktuelle Unterschied zwischen Angebot und der anhand Auftragseingänge geschätzten Nachfrage sehr wohl ein statistisch bedeutender Treiber für die Preisentwicklung im Verarbeitenden Gewerbe ist. Ist das Vorzeichen des Modellfehlers wie in Abb. 2 negativ, besteht ein Nachfrageüberschuss, der einen positiven Einfluss auf die Preisentwicklung im Verarbeitenden Gewerbe hat. Dies bestätigt nicht nur die These von Engpässen, sondern auch, dass diese seit der zweiten Hälfte 2020 zu messbarem Preisdruck geführt haben.
In der Finanzkrise 2009 sind Preise von Industriegütern deutlich stärker zurückgegangen als während der Corona-Pandemie im Jahr 2020, was natürlich auch maßgeblich von der Rohstoffpreisentwicklung beeinflusst wurde. Dennoch hat eine schwache Nachfrageerholung zusammen mit einem anfänglichem Lageraufbau – das Angebot war am Anfang der Krise deutlich höher als die Nachfrage – die Preise während und nach der Finanzkrise unter Druck gesetzt und so der Inflation gegengewirkt. Im aktuellen Umfeld einer deutlichen Nachfrageausweitung und Lieferengpässen wird der durch die Rohstoffpreiserholung induzierte Preisanstieg eher verstärkt – zumindest kurzfristig. So sind am aktuellen Rand deutliche Preiserhöhungen im Verarbeitenden Gewerbe erkennbar.
Insgesamt sind Probleme in den Lieferketten aktuell eine Realität, die in vielen Branchen in Deutschland für eine unzureichende Produktion verantwortlich sind. Diese Engpässe sind zum einen Folge einer außerordentlich dynamischen Nachfrageerholung, die für viele Branchen inzwischen über dem Vorkrisenniveau liegt. Es liegt aber auch an limitieren Frachtkapazitäten und globalen Kapazitätsengpässen und an Unterbrechungen bei Lieferketten. Das führt unweigerlich zu Preisanpassungen. Auch die Sicherstellung robusterer Lieferketten ist eine logische Konsequenz. Die Wertschöpfung entlang der Produktionskette wird demnach auf dem Prüfstand stehen. Kurzfristig wird die aktuelle Entwicklung den Preisdruck fördern, mittelfristig ist jedoch mit Kapazitätsausweitungen und Investitionen zu rechnen, was den Inflationsdruck dämpft. Ob dies zu einer höheren Wertschöpfung in Deutschland führt, bleibt allerdings abzuwarten, da das auch von grundsätzlichen Standortfragen abhängig ist (siehe auch IKB-Kapitalmarkt-News 13. April 2021).
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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