[Kapitalmarkt-News vom 2. Mai 2024]
Fazit: Der Produktionsstandort Deutschland ist unter Druck. Schon seit Jahren ist ein hohes globales Wirtschaftswachstum nötig, um das Produktionsniveau vor Ort zu halten. Während dies in den Jahren nach der Finanzkrise noch gut funktionierte, nicht zuletzt aufgrund der dynamischen Entwicklung in China, sorgt seit 2018 eine Wachstumsverlangsamung der globalen Industrieproduktion für einen Produktionsrückgang am Standort Deutschland.
Auch wenn sich die Weltwirtschaft im laufenden Jahr belebt, ergeben sich damit nicht so starke Impulse für die deutsche Industrie wie in früheren Jahren. Denn angesichts der schwachen Investitionsdynamik in Deutschland wäre aktuell ein besonders kräftiges globales Wirtschaftswachstum notwendig, um das Niveau der deutschen Produktion zu stabilisieren. Deswegen ist mittelfristig mit weiteren Produktionsrückgängen zu rechnen.
Um den Investitionsstandort Deutschland im internationalen Vergleich attraktiver zu gestalten, sind strukturelle Reformen und eine grundsätzlich optimistischere Stimmung notwendig, damit die Produktion unabhängig von der globalen Konjunktur gesteigert werden kann.
Deutsche Produktion im globalen Vergleich
Der Industriestandort Deutschland ist ein viel diskutiertes Thema. Neben einer konjunkturellen Schwäche besteht zusätzlich die Sorge, Wettbewerbsfähigkeitsverluste des Standorts Deutschland könnten zur Abwanderung der industriellen Wettschöpfung führen – vor allem in die USA. So belasten bereits seit Längerem Angebots- sowie Nachfrageprobleme die deutsche Industrie. Um die Produktionszahlen des Verarbeitenden Gewerbes besser deuten zu können, wird im Folgenden zwischen konjunkturellen und strukturellen Einflüssen unterschieden. Ziel ist es, die Wachstumsraten der deutschen Industrieproduktion im Kontext struktureller Hemmnisse sowie konjunktureller Dynamiken zu interpretieren, um einen mittelfristigen Ausblick für das deutsche Verarbeitende Gewerbe zu geben. Ist der anhaltende Pessimismus der deutschen Industrie gerechtfertigt? Was muss passieren, um den nun schon seit Jahren eher flachen Wachstumspfad der Industrieproduktion zu stärken? Wie wird sich eine globale Konjunkturerholung auf die deutsche Produktion auswirken?
Die deutsche Industrieproduktion zeigt seit 2018 einen strukturellen Bruch; der bis dahin bestehende positive Produktionstrend ist gestoppt. Am aktuellen Rand scheint sich zwar die Produktion zu stabilisieren, aber eine Trendwende ist nicht erkennbar. Dies zeigt sich vor allem im internationalen Vergleich. So entwickelte sich die Produktion in Deutschland bereits in den letzten Jahren grundsätzlich anders als die globale. Abb.1 verdeutlicht, dass das Verarbeitende Gewerbe und damit der Produktionsstandort Deutschland schon länger an Relevanz im globalen Wettbewerb verloren hat. Bereits seit 2010 befindet sich die deutsche Produktion auf einem flacheren Wachstumspfad als vor der Finanzkrise. Der „Knick“ seit 2018 hat diese Entwicklung deutlich verstärkt und zu einem negativen Trend geführt. Dieser „Knick“ dokumentiert sich im Übrigen auch in wichtigen Branchen wie der Automobilindustrie.
Empirische Analyse: Globale Konjunktur reicht nicht mehr aus, um strukturelle Probleme zu überdecken
In der Analyse werden gemäß Abb.1 drei Zeitperioden unterschieden:
- In der ersten Phase zwischen 2000 und 2007 vor der Finanzkrise besteht ein starker Gleichlauf zwischen globaler und deutscher Industrie.
- In der zweiten Phase zwischen 2010 bis 2017 entwickelte sich China zum bedeutendsten globalen Wachstumstreiber und trug rund ein Drittel zur weltwirtschaftlichen Dynamik bei. Grundsätzlich ist dies eine Zeitperiode mit kräftigem globalem Wachstum, das sich allerdings weniger deutlich auf die deutsche Produktion auswirkte, wie die Verflachung des Produktionstrends in Abb.1 zeigt.
- Die dritte Phase ab 2018 startet mit dem „Knick“ in der deutschen Produktion.
Für alle drei Phasen stellt sich die Frage, in welchem Maße Konjunktur oder strukturelle Anpassungen die Entwicklung getrieben haben, bzw. wie sich die empirischen Schätzungen für die drei Perioden verändert haben.
Wir haben für die drei Phasen je eine Konstante sowie einen Koeffizienten geschätzt. Gemäß diesem Modell wird das deutsche Industriewachstum also durch drei Aspekte getrieben: Die globale Konjunktur, ihren Einfluss auf die deutsche Produktion (der Koeffizient) sowie eine Strukturkomponente (die Konstante). Da das deutsche Verarbeitende Gewerbe eine hohe globale Vernetzung aufweist, verfügt das Modell über einen hohen Erklärungsgrad. Tabelle 1 zeigt die Schätzungsergebnisse.
Für alle drei Perioden ergeben die Schätzungen eine signifikant negative Konstante. Es ist also ein Mindestwachstum der globalen Industrie erforderlich, um zu verhindern, dass die deutsche Produktion sinkt. Lässt die Dynamik der globalen Produktion nach, wird dies die Produktion am Standort Deutschland belasten, bzw. es kann schnell zu einem absoluten Rückgang der deutschen Produktion kommen. Nur durch ein ausreichend hohes globales Wachstum wird die deutsche Produktion gestützt, bzw. es besteht Raum für weitere Spezialisierung am Standort Deutschland.
Für die drei Phasen haben sich jedoch die Koeffizienten geändert! Die deutsche Produktion benötigt ein immer höheres globales Wachstum, um ihr Niveau zu halten. Negative strukturelle Entwicklungen haben also schon länger zu Produktionsverlagerungen geführt, wurden jedoch viele Jahre von der guten globalen Konjunkturentwicklung verdeckt, vor allem zwischen 2010 und 2017. Doch inzwischen ist ein globales Wachstum von fast 4 % erforderlich, um die Produktion am Standort Deutschland zu halten. Da dies in den letzten Jahren nicht der Fall war, sank die deutsche Industrieproduktion um fast 1 % pro Jahr. Auch in der Zukunft und vor allem im Umfeld einer reiferen chinesischen Industrialisierung bleibt es zweifelhaft, ob das globale Wachstum anhaltend hoch bleibt bzw. wieder ansteigen kann.
Die drei Phasen im Einzelnen:
- 2000 bis 2007: Das globale Wachstum ist mehr als ausreichend, um strukturelle Entwicklungen in Deutschland auszugleichen. Negative nicht-konjunkturelle Einflüsse halten sich zudem in Grenzen. Hier dürften auch die Reformen der Agenda 2010 seit dem Jahr 2003 eine Rolle gespielt haben. In Folge ist die deutsche Produktion deutlich gestiegen, vor allem seit 2004.
- 2010 bis 2017: Das für das Wachstum der deutschen Produktion erforderliche globale Wirtschaftswachstum hat sich verdoppelt. Allerdings war die globale Konjunkturentwicklung außerordentlich positiv, nicht zuletzt dank China, sodass ein Anstieg der deutschen Produktion immer noch sichergestellt war. Zudem stieg die Sensitivität leicht an: 1 Prozentpunkt globales Wachstum hat zu einem Anstieg von 1,5 Prozentpunkten in Deutschland geführt.
- Ab 2018: Die Veränderung beider Koeffizienten belastet Deutschland. Die Elastizität geht zurück, und die Konstante wird noch stärker negativ. In Folge hat sich das globale Wachstum, das nötig ist, um die deutsche Produktion zu sichern, nochmals erhöht. Aber: Das durchschnittliche globale Wachstum hat nachgelassen und liegt unter der notwendigen Schwelle. In Folge ist die deutsche Industrieproduktion gesunken. Aktuell scheint das globale Wachstum wieder zuzulegen. In Folge dürfte sich eine zyklische Belebung der deutschen Produktion 2024 und 2025 abzeichnen. Eine Veränderung der Koeffizienten ist mangels Reformen jedoch weniger zu erwarten. Eine strukturelle rückläufige Produktion bleibt demnach eine reale Gefahr – vor allem wenn das globale Wachstum aufgrund von geopolitischen Themen belastet wird.
Einschätzung: Es besteht dringender Handlungsbedarf
Tabelle 1 zeigt die empirische Evidenz, dass der Standort Deutschland schon länger zunehmenden Gegenwind erhält. Vor dem Hintergrund der jüngsten Wettbewerbsverluste besteht die reale Gefahr einer Deindustrialisierung. Das globale Wirtschaftswachstum, das erforderlich ist, um das deutsche Produktionsniveau zu halten, steigt ständig.
Unsere Schätzungen deuten darauf hin, dass die globale Industrieproduktion im historischen Vergleich sehr kräftig wachsen muss, um den negativen Wachstumsbeitrag der Konstante für die deutsche Industrieproduktion zu eliminieren. Dies bedeutet: Ohne einen Anstieg der Konstante bzw. ohne einen konjunkturunabhängigen Investitionsschub wird die Industrieproduktion in Deutschland weiter zurückgehen. Ein wirtschaftspolitisches Ziel muss deshalb sein, Wachstumsbremsen auf der Angebotsseite des deutschen Produktionsstandortes abzubauen. Die Konstante von aktuell -4,7 liegt angesichts des globalen Wachstumsausblicks zu weit im negativen Bereich. Nötig ist eine lokale Kapazitätsausweitung durch eine Investitionsinitiative, die auf einer Verbesserung der Attraktivität des Industriestandortes Deutschland beruht und zwar unabhängig vom globalen Konjunkturzyklus.
Ein weiteres Ziel wäre ein deutlicher Anstieg der Sensibilität zum globalen Wachstum. Der Einfluss des globalen Wachstums auf Deutschland muss erhöht werden. Hier geht es nicht nur um Auslands- versus Inlandsinvestitionen deutscher Unternehmen, sondern vor allem darum, Investitionen ausländischer Unternehmen für den Standort Deutschland zu gewinnen. Der deutsche Standort muss nicht nur aus deutscher Sicht, sondern auch aus globaler Sicht attraktiver werden.
Deutschland braucht keine Konjunktur-, sondern eine Wirtschaftspolitik, die die Koeffizienten ändert! Die Themen sind alle bekannt: Schleichende Digitalisierung, bürokratische Hemmnisse, hohe Steuerlast, hohe Energie- und Produktionskosten sowie Fachkräftemangel. Am Ende lässt sich zusammenfassen: Die erwartete Rendite auf investiertes Kapital muss in Deutschland steigen. Hier kann ein grundsätzlich optimistischer Ausblick für das Land sicherlich viel helfen. Und der Staat sollte durch Handlungsbereitschaft und Entschlossenheit die notwendigen und richtigen Akzente setzen.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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