[Kapitalmarkt-News vom 7. Juli 2020]
Fazit: Die Aufholdynamik der deutschen Wirtschaft könnte sich als weniger dynamisch herausstellen, als dies nach der Finanzkrise im Jahr 2008 der Fall war. Doch selbst damals hatte es rund drei Jahre gedauert, bevor die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes das Vorkrisenniveau erreichte.
Zwar bestätigen aktuelle Produktionszahlen eine deutliche Aufholdynamik im Mai 2020. Angesichts des im Vergleich zur Finanzkrise ausgeprägteren Einbruchs ist dies jedoch wenig überraschend. Entscheidend wird sein, ob diese Wachstumsdynamik über die nächsten Quartale aufrechterhalten werden kann. Nachfrageseitig resultieren Risiken unter anderem aus dem Verlauf der Coronakrise in den USA und der nach wie vor offenen Ausgestaltung des Brexit. Auf der Angebotsseite könnte eine steigende Arbeitslosigkeit die Erwartungen dämpfen. Die IKB erwartet in diesem Jahr ein Produktionsrückgang des deutschen Verarbeitenden Gewerbes von rd. 15 % und eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau erst Ende 2021.
Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes ist im Mai deutlich um 10,4 % im Vergleich dem Vormonat gestiegen. Eine Entwicklung, die sich im Juni fortsetzen sollte. Nach dem Einbruch in den Monaten März und April war von einer Erholung in den Folgemonaten auszugehen, was auch die jüngsten Auftragseingänge bestätigen. Die Aufholdynamik der einzelnen Branchen ist jedoch sehr unterschiedlich. So zeigt die Automobilindustrie zwar den größten Produktionssprung im Mai. Sie verzeichnete aber im Branchenvergleich auch den größten Einbruch in den Monaten zuvor. So lag die Produktion im Mai 2020 immer noch 50 % unter dem Niveau von Januar. Zum Vergleich: Die Produktion der Metallindustrie lag rund 24 % unter dem Januar-Niveau, der Maschinenbau knapp 20 % und die Elektroindustrie 15 %. Die Chemieindustrie, die im Mai eine der wenigen Branche war, deren Produktion gesunken ist, lag im Mai 2020 10 % unter ihrem Produktionsniveau vom Jahresanfang.
Aktuell bestimmen Normalisierungs- oder Aufholeffekte die Entwicklung der Produktion. Beim Ausblick 2020/21 stellt sich die Frage, ob die Erholung selbsttragend wird und damit eine Wachstumsdynamik generiert, welche die Produktion nach anfänglichen Aufholeffekten relativ schnell auf das Vorkrisenniveau hebt. Im Vergleich zur Finanzkrise 2008 war der Produktionseinbruch in der Coronakrise deutlich stärker. Die aktuelle und im Vergleich zur Finanzkrise etwas deutlichere Erholung (siehe Abb. 2) ist demnach nicht überraschend. Die Erholungsdynamik nach der Finanzkrise lässt jedoch Zweifel aufkommen, ob die aktuelle Stärke der Belebung anhalten wird. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass die konjunkturelle Erholung nicht Monate, sondern eher Quartale dauern könnte. Unabhängig von einer möglichen zweiten Infektionswelle sollte deshalb auch nach der Coronakrise eher von Quartalen als von Monaten ausgegangen werden.
Aktuell wird die Erwartung einer nachhaltigen Erholungsdynamik vor allem durch die Entwicklung in China gestützt; die dortige Industrieproduktion hat sich bereits deutlich erholt und wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Doch auch nach der Finanzkrise war die chinesische Industrieproduktion klar vorausgeeilt, und sie wurde zusammen mit den chinesischen Konjunkturprogrammen ein wichtiges Zugpferd der globalen Belebung. Starke monatliche Wachstumsraten – aus der chinesischen oder der deutschen Industrieproduktion – sollten nicht dazu verleiten, die Wirkung der Coronakrise als kurzfristig abzuhaken.
Im Gegensatz zur Erholungsphase nach der Finanzkrise ist der Ausblick für bedeutende Exportmärkte aktuell eher negativ. Dies gilt vor allem für die USA und Großbritannien, die zusammen im Jahr 2019 fast 15 % der deutschen Exporte ausmachten. Von allen Wachstumsregionen scheinen die USA aktuell das größte Risiko für die globale Konjunktur darzustellen. Angesichts der anhaltend hohen Infektionszahlen, zunehmender Armut und politischer Unsicherheiten vor der Präsidentschaftswahl im November 2020 bleibt das Risiko für diesen Absatzmarkt hoch. Die USA mögen in den letzten Jahren zwar nur 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte zum jährlichen Weltwirtschaftswachstum von 3,0 % bzw. 3,5 % beigetragen haben. Aufgrund ihres Leistungsbilanzdefizits ist der Beitrag der Binnennachfrage für die globale Dynamik jedoch höher.
Neben hohen Risiken in den Absatzmärkten scheint aktuell auch die Angebotsseite der deutschen Wirtschaft stärkeren Gegenwind als in der Finanzkrise zu bekommen. So sind viele Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes durch die Industrierezession im vergangenen Jahr geschwächt in die Coronakrise gerutscht, was das Risiko steigender Ausfälle erhöht (siehe auch IKB-Kapitalmarkt-News 13. Mai 2020). Auch ist die Zahl der Kurzarbeiter um ein Vielfaches höher als in der Finanzkrise, ein Risiko für eine strukturell steigende Arbeitslosenquote. Die IKB schätzt die aktuelle Zahl von – relativ zur Wirtschaftsleistung – überschüssigen Arbeitsplätzen auf rund 4 Mio. Personen, was mit einer Kurzarbeiteranzahl von rund 8 Mio. durchaus konsistent ist. Nur bei relativ guten gesamtwirtschaftlichen Bedingungen ist von einem Abbau dieses Überhangs bis Anfang des Jahres 2022 auszugehen (siehe IKB-Kapitalmarkt-News 24. Juni 2020). Zunehmende Unternehmensinsolvenzen und die Gefahr einer steigenden Arbeitslosenquote vor allem im Jahr 2021 reduzieren insgesamt das kurzfristige Wachstums- bzw. Reaktionspotenzial der deutschen Wirtschaft.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
Hinterlasse einen Kommentar