[Kapitalmarkt-News vom 29. Oktober 2019]

Einleitung

Die Türkei hat einen anhaltend hohen Bedarf an US-$-Devisen – zum einen, um US-$-Kredite zu refinanzieren und zum anderen, um das strukturelle Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren. Um das Leistungsbilanzdefizit zu decken, benötigt die Türkei ausländisches Kapital; hierfür muss das Land Investoren eine attraktive Rendite bieten. Die Innen- und Außenpolitik der Türkei treibt allerdings die Risikoprämien des Landes nach oben und schwächt das Potenzialwachstum. Was bedeuten die jüngsten Entwicklungen für die türkische Wirtschaft und damit für die mittelfristige Inflationsperspektive? Ist der nächste „blow-off“ der türkischen Lira unausweichlich?

Aktuelle Konjunktur stabilisiert sich, aber …

Die türkische Wirtschaft ist im ersten Quartal 2019 um 1,6 % im Vergleich zum Vorquartal gewachsen und im zweiten Quartal um 1,3 %. Der Konsum blieb allerdings schwach und die Investitionen lagen im zweiten Quartal 2019 um 22,8 % unter ihrem Vorjahresniveau. Die Importe waren infolge der schwachen Binnennachfrage rückläufig, während die schwache Lira die Exporte stützte. Damit konnte der Außenhandel in den abgelaufenen vier Quartalen einen positiven Wachstumsbeitrag liefern. Eine grundsätzliche strukturelle Verbesserung der Handelsbilanz ergibt sich daraus allerdings nicht. Denn es ist vor allem die inländische Rezession und die daraus resultierende schwache Binnennachfrage, die Importe dämpft und eine Verbesserung der Handelsbilanz bewirkt hat. Der aktuelle Konflikt mit Syrien hat hingegen bereits zu ersten Sanktionen geführt, welche den Export belasten dürften – ein Prozess, der sich bei unveränderter Außenpolitik sicherlich ausweiten sollte.

Die türkische Arbeitslosenquote lag im April 2019 bei 13,0 % und zeigt seit 2012 einen strukturellen Anstieg – ein klares Indiz eines sich aufbauenden Handlungsdrucks auf die türkische Regierung. Die Stabilisierung der Finanzlage nach der Lira-Abwertung und das Ende der Wahlperiode boten der türkischen Führung zwar die Chance, längst überfällige Strukturreformen wie Korruptionsbekämpfung und die Effizienzsteigerung staatlicher Institutionen in Angriff zu nehmen, um das Potenzialwachstum zu steigern und ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage sicher zu stellen. Der Fokus lag allerdings klar auf der Fortführung der Nachfragepolitik. Außenpolitische Risiken, mangelnde Reformbereitschaft aber auch mögliche innenpolitische Spannungen nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit belasten nach wie vor das Potenzialwachstum, was sich auch im aktuellen Einbruch der Investitionen dokumentiert.

2019 strebt die türkische Regierung ein Budgetdefizit von unter 3 % des BIP an. Dazu wären deutliche fiskalische Konsolidierungsanstrengungen notwendig, die nicht ersichtlich und nicht zu erwarten sind, denn seit Anfang des Jahres hat die Regierung eine deutlich expansivere Fiskalpolitik zur Stärkung der Binnennachfrage betrieben. Das nach IWF-Standard berechnete Primärbilanzdefizit, also die Einnahmen minus Ausgaben, ohne Zinszahlungen, lag 2018 bei 2,8 % des BIP – und damit auf dem höchsten Stand seit mehr als 10 Jahren. Das Haushaltsdefizit betrug laut IWF zuletzt 5 % des BIP, wobei der IWF die fiskalischen Kennzahlen um die nicht-wiederkehrenden Einnahmen bereinigt und daher die strukturellen Entwicklungen nachvollziehbar abbildet. Die Senkung der Mehrwertsteuer auf langlebige Konsumgüter wirkte sich positiv auf den privaten Verbrauch in der ersten Hälfte des Jahres 2019 aus. Eine kurzfristig weiter sinkende Inflationsrate und die sich damit stabilisierende Kaufkraft der türkischen Haushalte sollte diese Entwicklung weiter fördern.

Insgesamt scheint sich die Wirtschaft stabilisiert zu haben, und die meisten Konjunkturindikatoren erholen sich tendenziell von ihren zwischenzeitlichen Tiefständen. Deshalb ist auch in den kommenden Quartalen von einem moderaten BIP-Wachstum in der Türkei auszugehen. Für das Gesamtjahr 2019 ist jedoch aufgrund des starken statistischen Unterhangs von einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung um ca. 0,5 % auszugehen.

… strukturelles Ungleichgewicht belastet den Ausblick für die Lira  

Mit sinkendem Potenzialwachstum bei gleichzeitig großer Binnennachfrage steigt das strukturelle Inflationsrisiko. Normalerweise würde der sich aufbauende Inflationsdruck durch das „Ventil“ der Handelsbilanz nachgeben. Bei fehlenden oder immer schwierigeren Finanzierungsbedingungen wird dies jedoch immer weniger möglich bzw. führt eher zu einer Abwertung der Lira und damit zu Inflation als zu mehr Importen und einem besseren Lebensstandard. Das Risiko steigt, dass die Inflation infolge des strukturellen Ungleichgewichts zulegt, da Fremdfinanzierungen oder Strukturreformen fehlen. Jüngste außenpolitische Entwicklungen erhöhen diese Gefahr eindeutig. Die Alternative wäre eine fundamentale Erhöhung der Zinsen, um eine Annäherung an das Gleichgewicht vor allem durch eine geringere Binnennachfrage zu erzielen. Diese Politik findet jedoch aktuell wenig Akzeptanz bei der türkischen Regierung – wie die jüngsten, überraschend deutlichen Zinssenkungen der Notenbank bestätigen.

Das Leistungsbilanzdefizit konnte von 2009 bis 2012 durch ausländische Portfolio-, Direktinvestitionen und andere Kapitalzuflüsse vollständig finanziert werden. Seit 2013 decken die Netto-Kapitalflüsse aber nicht mehr den Fehlbetrag der Leistungsbilanz, was zu einer Außenfinanzierungslücke und damit zu schrumpfenden Währungsreserven führte. Um die Währungsreserven beurteilen zu können, berechnet der IWF einen Angemessenheits-Index, der zwischen 100 % und 150 % liegen sollte. In der Türkei betrug diese Kennziffer im Jahr 2013 noch 101,6 %, sank aber seitdem tendenziell. Aktuell wird sie auf 75,0 % geschätzt. Die Netto-Devisenposition türkischer Unternehmen hat sich hingegen seit Ende 2017 bis Juni 2019 um 27,2 Mrd. US-$ leicht verbessert. Mitte 2019 betrug sie jedoch immer noch 24,8 % des BIP. Der Anteil der Fremdwährungsverbindlichkeiten wird auf über 50 % geschätzt. Der kurzfristige Liquiditätsbedarf ist jedoch durch US-Dollar-Aktiva gedeckt. Auch die türkischen Großbanken scheinen über ausreichend US-Dollar-Aktiva zu verfügen, um die kurzfristigen Fremdwährungsverbindlichkeiten bedienen zu können. Eine Liquiditäts- bzw. Abwertungskrise ist demnach kurzfristig nicht zu erwarten.

Es ist eher der mittelfristige wirtschaftliche Ausblick, der Grund für die Annahme eines anhaltenden Abwertungs- und Volatilitätsrisikos für die Lira liefert. Bezogen auf die Währungsreserven der Zentralbank ist der externe Finanzierungsbedarf der türkischen Wirtschaft einer der höchsten von Schwellenländern. Die Sicherung des jährlichen externen Finanzierungsbedarfes, der sich auf 25 % des BIP beläuft, wird weiterhin im Fokus der Devisenmärkte stehen, vor allem wenn die Reserven der Notenbank erneut abnehmen sollten. Deshalb müsste die Türkei eine „investorenfreundlichere“ Außenpolitik betreiben und sollte angebotsseitige Reformen angehen, um langfristig das gesamtwirtschaftliche Ungleichgewicht aufzulösen und ein höheres Potenzialwachstum zu erreichen. Aktuell gibt es von der türkischen Wirtschaftspolitik wenig Unterstützung für die Türkische Lira. Wie lange die Geldpolitik der Notenbank die Währung durch hohe Zinsen stützen kann, bleibt abzuwarten. Im Klartext: Die aktuelle relative Stabilität der Lira ist kein Indiz für eine fundamental stabile Währungsentwicklung.

Strukturell wären höhere Zinsen sinnvoll

Die türkische Zentralbank hat das seit 2012 geltende mittelfristige Inflationsziel von 5 % nie erreicht. In der gesamten letzten Dekade war die monetäre Ausrichtung der türkischen Zentralbank durch eine starke Priorisierung auf Wachstum geprägt, was zur Überhitzung der Volkswirtschaft geführt hat. Auch mündete die relativ lockere Geldpolitik in einem zeitweise abrupt sinkenden Außenwert der türkischen Währung, da es die internationale Attraktivität der türkischen Lira belastete. Dies erforderte wiederum abrupte Zinsanhebungen, was auch jüngst der Fall war. Doch abgesehen von solchen einzelnen Maßnahmen wurde der reale Leitzins nahe der Null-Schwelle oder darunter gehalten. Im Zeitraum zwischen 2011 und 2017 lag der reale durchschnittliche Leitzins in der Türkei bei rund -1,4 %, während er in vergleichbaren Schwellenländern wie Südafrika, Brasilien, Mexiko und Russland im Durchschnitt 1,7 % betrug. Auch zwischen Dezember 2016 und Mitte 2018 war der reale Leitzins in der Türkei durchgehend negativ und lag im Durchschnitt sogar bei -2,9 %.

Eine Folge der negativen bzw. relativ niedrigen Zinsen ist die hohe Fremdwährungsverschuldung der Türkei. Anstatt ausreichend hohe lokale Zinsen sicherzustellen, bei denen ausländische Anleger bereit sind, das Währungsrisiko der Lira zu tragen, trägt die türkische Wirtschaft dieses Risiko aufgrund ihrer hohen Fremdwährungsverbindlichkeiten selbst. Die lokalen Kapitalmärkte wurden mit relativ „billigem“ Fremdkapital umgangen und auf diese Weise subventioniert. Eine höhere Fremdverschuldung ermöglicht zwar die kurzfristige Finanzierung des Defizites, aber ein Gleichgewicht wird durch „künstlich“ niedrige Zinsen nicht erreicht.

Der strukturell niedrige Zinssatz hat zu einer erhöhten Dollar-Fremdwährungsanteil an den inländischen Einlagen geführt. Die Dollarquote der Bankeinlagen ist von durchschnittlichen 31,3 % in der ersten Jahreshälfte 2013 auf über 53 % im Juni 2019 gestiegen. Die zuständige Behörde hat eine Reihe von punktuellen Maßnahmen umgesetzt, um der voranschreitenden Dollarquote entgegenzuwirken. Diese beinhalten einen höheren Mindestreservesatz für Fremdwährungskredite über alle Laufzeiten und eine niedrigere Verzinsung von Fremdwährungseinlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Des Weiteren wurde Unternehmen ohne Währungsumsätze verboten, Kredite in harter Währung aufzunehmen. Eine höhere Besteuerung der Zinserträge aus den Fremdwährungseinlagen sowie eine Konvertierungsteuer für physische Personen wurden ebenfalls eingeführt. Weitere Maßnahmen bis hin zu Kapitalkontrollen wären denkbar. Eine Lösung für die strukturellen Probleme stellen diese Maßnahmen allerdings nicht dar. Benötigt werden höhere Zinsen, um die Attraktivität der Lira gegenüber lokalen wie internationalen Investoren zu verbessern. Grundsätzlich erforderlich wäre zudem ein höheres Potenzialwachstum, um das Ungleichgewicht, das sich durch hohen Inflationsdruck und ein zunehmendes Außenhandelsdefizit äußert, aufzulösen. Beides – höhere Zinsen und größeres Potenzialwachstum – scheint aber nicht im Fokus der Regierung zu stehen.

Im August 2019 war der reale Leitzins einer der höchsten im Vergleich zu anderen Schwellenländern. Im September wurde der nominale Leitzins jedoch erneut um 325 Basispunkte und im Oktober mit 250 bp gesenkt. Eine weitere Senkung im Dezember ist zu erwarten. Der reale Leitzins dürfte am Ende des laufenden Jahres bei 3 % liegen und damit noch über dem Durchschnitt anderer großer Schwellenländer. Wie lange dies der Fall sein wird, ist jedoch fraglich. Laut dem neulich veröffentlichten Wirtschaftsprogramm strebt die Regierung ein reales jährliches BIP-Wachstum von 5 % für 2020 bis 2022 an. Die politischen Kosten einer restriktiven Geld- und Fiskalpolitik möchte die türkische Führung scheinbar nicht tragen. Die Konsequenz ist angesichts des Ungleichgewichts und der aktuellen Außenpolitik eindeutig: Steigende Inflation, eine abwertende Lira und eine sich aufbauende Zahlungsbilanzkrise. Die IKB sieht die mittelfristige Entwicklung der türkischen Lira kritisch. Die Währung wird weiterhin tendenziell abwerten – vorübergehend unterbrochen durch Überreaktionen der Devisenmärkte.

Fazit:

Die türkische Wirtschaft kennzeichnet ein starkes Ungleichgewicht, das sich im Leistungsbilanzdefizit niederschlägt – eine nicht untypische Entwicklung für Schwellenländer. Untypisch ist jedoch die Wirtschafts- und Geldpolitik, die das Ungleichgewicht befeuert, anstatt es aufzulösen. Hierzu gehört der Versuch die Zinsen niedrig zu halten und die Fiskalpolitik expansiver zu gestalten. Die steigende Dollarorientierung der Binnenwirtschaft, das strukturelle Leistungsbilanzdefizit sowie unattraktive Renditen aufgrund von steigenden Risikoprämien sind die Folge. Die aktuelle Innen- und Außenpolitik verschärft diese Entwicklung, reduziert das Potenzialwachstum und fördert die Gefahr einer Rückkehr zu deutlich höheren Inflationsraten. Die starke Volatilität und der Abwertungsdruck auf die Lira sollten bestehen bleiben, die aktuelle Stabilität ist nicht nachhaltig.     

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