[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 11. März 2021] In Deutschland gibt es insgesamt 18 Raffinerien mit einer Gesamtkapazität von ca. 105 Mio. Tonnen Rohöl pro Jahr. Die meisten sind in Händen der bekannten ölverarbeitenden Industrieunternehmen und verteilen sich regional auf die großen Industriezentren in Deutschland. Die Produktion ist 2020 aufgrund der Corona-Pandemie um ca. 9 % zurückgegangen. Die stärksten Rückgänge bei Produkten mit signifikanter Produktionsmenge verzeichnen Kerosin mit -53,9 %, schweres Heizöl mit -50,5 % und leichtes Standardheizöl mit -29,3 %. Gewinner der Krise waren Mitteldestillatkomponenten mit +106,5 %, Halbfabrikate mit +15,1 % und Rohbenzin (Naphtha) mit +6,1 %. Demnach hat sich die Produktion wesentlich verschoben; weniger Kraftstoffe und mehr Rohstoffe für Industrieanwendungen. Dieser Trend wird sich auch mittel- bis langfristig verfestigen. Was bedeutet das für die Raffineriestandorte in Deutschland?
Strategien der großen Konzerne im Wandel
BP hat angekündigt bis 2050 klimaneutral werden zu wollen und hat dieses Ziel auch mit konkreten Maßnahmen hinterlegt. Der Ausbau von erneuerbaren Energien und der Einstieg in die Wasserstoff-Produktion sind hier entscheidende Faktoren. Shell hat bekanntgegeben, seine Raffinerieaktivitäten weltweit in sechs Energie- und Chemieparks zu bündeln. Einer dieser Standorte soll in Wesseling im Süden Kölns liegen. OMV baut Österreichs größten Elektrolyseur und setzt auf synthetische Kraftstoffe. Spätestens im Zuge der Corona-Pandemie und der Verkündung des European Green Deals hat fast jeder Erdölkonzern einen Strategieschwenk hin zu nachhaltigeren Lösungen verkündet. Der Verbrauch von Kraftstoffen wird in Europa mittelfristig sinken. Der Anteil von Kohlenstoff, der z. B. durch die chemische Industrie weiterverarbeitet wird, steigt. Auch deshalb werden Anlagen neu konfiguriert und die Komplexität von bestehenden Raffinerien wird erhöht. Ähnlich dem Oil-to-Chemicals-Trend im Mittleren Osten und China wird auch hierzulande der Rohbenzin-Output in Raffinerien steigen. Gleichzeitig werden wenig komplexe und kleine Raffinerien es schwer haben, weiterhin profitabel zu wirtschaften. Die IKB schätzt, dass vier bis fünf der aktuell 18 Raffinerien in Deutschland mittelfristig nicht überleben werden.
Wasserstoff und grüne Kraftstoffe als Wachstumsfelder
Die Elektrifizierung der Industrie schreitet auch bei den Raffinerien voran. Während das herkömmliche Geschäft hauptsächlich mit Treibstoff in den kommenden Jahren noch einträglich sein wird, gilt es schon jetzt, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Anstatt herkömmlicher Treibstoffe werden in Zukunft synthetische Produkte aus Wasserstoff und wiederverwendetem Kohlenstoff, Wasserstoff in der Brennstoffzelle und elektrische Energie aus Batterien eingesetzt werden. Die IKB rechnet damit, dass der Verbrauch an Benzin bis 2040 um ca. 1,5 bis 2,5 % p. a. sinken wird. Diesel wird sich aufgrund des Schwerlasttransports besser halten und der Absatz wird deshalb weniger stark schrumpfen, aber auch hier ist die Richtung eindeutig vorgegeben. Die chemische Industrie ist an Feedstock-Alternativen zu herkömmlichem Erdgas und Rohbenzin interessiert. Auch deshalb ist es für die Betreiber jetzt wichtig, Kooperationen mit anderen Sektoren einzugehen, die Innovationskraft zu erhöhen und im signifikanten Maß auf grünen oder blauen Wasserstoff zu setzen. Die Wertschöpfung wird sich entscheidend verlagern. Von einer grünen Revolution zu sprechen, ist sicher übertrieben, aber eine Evolution wird es in entscheidendem Maße geben.
Sven Anders ist Abteilungsdirektor und Head des Sektorteams Industrials, Mobility & Construction der IKB. Er betreut insbesondere Unternehmen aus den Chemiebranche und ist hier involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Finance an der Norwegian School of Economics (NHH) hat er seine ersten beiden Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 2018 zur IKB stieß.
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