[Kapitalmarkt-News vom 22. Mai 2018] Das neue italienische Regierungsbündnis mit der Fünf-Sterne-Bewegung und der „Lega“ hat verlauten lassen, dass Italien keine deutsche Kolonie werden möchte, wenn es um Haushaltspolitik geht. Und Frankreichs Präsident Macron kritisiert einen deutschen „Fetischismus für Haushaltsüberschüsse“. In beiden Fällen werden Deutschlands fiskalpolitische Vorstellungen kritisiert und mit negativen Attributen versehen. Das überrascht insofern etwas, weil nicht nur Deutschland fiskalische Disziplin einfordert, sondern auch die nordeuropäischen EU-Staaten. Zudem wird gerne verdrängt: Alle Staaten der Euro-Zone haben seinerzeit den Vertrag von Maastricht unterschrieben, der die Grundlage der Währungsunion bildet und die Rahmenbedingungen für die Fiskal- bzw. Schuldenpolitik vorgibt. Was Frankreich und Italien zu verstehen geben ist, dass dieser Vertrag für sie nicht bindend ist, obwohl er in konjunkturellen Abschwüngen durchaus außergewöhnliche fiskalpolitische Maßnahmen ermöglicht. Allerdings sind entsprechende Aktionen, die während der Euro-Krise als Ausnahme proklamiert wurden, inzwischen feste Bestandteile der Fiskalpolitik geworden. Davon zeugen der inzwischen permanent installierte Rettungsfonds ESM und Bestrebungen, dessen Befugnisse in Form eines europäischen Währungsfonds weiter auszubauen.
Diese Aussagen im Umfeld eines positiven Konjunkturverlaufs, währenddessen eine haushaltspolitische Konsolidierung durchaus angebracht wäre, überraschen schon. Zwar war das Wirtschaftswachstum in beiden Ländern in den letzten Jahren nicht so stark wie in Deutschland, doch auch diese beiden Volkswirtschaften haben sich belebt; das BIP liegt in beiden Ländern über dem Vorkrisenniveau. Die aktuellen Arbeitslosenquoten in Italien und Frankreich sind deutlich niedriger als während der Finanzkrise und nähern sich ihrem Vorkrisenniveau an. Es besteht keine Krisensituation, in der Brüssel die Länder zum Sparen zwingt, obwohl eine expansive Fiskalpolitik nötig wäre. In diesem Fall wäre ein Plädoyer für mehr fiskalischen Spielraum durchaus angebracht. Dabei sei erwähnt, dass auch Deutschland diesen Spielraum genutzt und schon zu Beginn der Euro-Zone gegen die Kriterien verstoßen hat.
Zudem hat die EZB durch ihre Niedrigzinspolitik fiskalischen Spielraum selbst für hochverschuldete Länder geschaffen. Für Italien und Frankreich liegt das nominale BIP-Wachstum über dem effektiven Zinssatz des Staates. Dies ermöglicht den Ländern ein Defizit ihrer Primärbilanz (Haushaltssaldo ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen), ohne die Schuldenquote automatisch zu erhöhen. So hat die EZB äußerst positive Rahmenbedingungen für eine flexiblere Fiskalpolitik selbst bei den aktuell hohen Schuldenquoten geschaffen.
Grundsätzlich werden in konjunkturellen Abschwungphasen Stützungsmaßnahmen benötigt, um ausreichend Nachfrage sicherzustellen. Diese Maßnahmen können auch mehrere Jahre andauern. Argumente, eine solche Politik verhindere den notwendigen Reinigungsprozess und nur Sparen könne eine Senkung der Schuldenquoten bewirken, sind empirisch nicht belegbar. Vielmehr reduziert Sparen die Nachfrage und bringt im Extremfall den wirtschaftlichen Kreislauf zum Erliegen, weil Investitionen ausbleiben. In einer Volkswirtschaft mit endogener Geldmengausweitung, in der die Notenbank das Monopol der Geldschöpfung hat, wird Kapital für Investitionen durch Kredite generiert und nicht durch Sparen. Auch das Argument, welches immer noch in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern zu finden ist, dass eine höhere Staatsverschuldung die Zinsen steigen lasse, trifft nicht zu: Höhere Schuldenquoten führen zu niedrigeren Zinsen, da die effektive Nachfrage im Umfeld einer hohen Schuldenquote bzw. einer ungleichen Verteilung von Vermögen und Schulden belastet wird. Aus dieser Sicht ist die Argumentation schlüssig, die Zinsen in der Euro-Zone bleiben noch auf Sicht relativ niedrig.
Auf deutscher Seite werden eine hohe Sparquote und ein struktureller Leistungsbilanzüberschuss grundsätzlich als vorteilhaft angesehen. Es sei besser, für die Zukunft zu sparen, als für den Moment zu konsumieren, so wird argumentiert. Ein Überschuss auf der Handelsbilanz zu erwirtschaften sei besser, als ein Defizit zu bezahlen. Beides ist verkehrt, weil Wohlstand nicht durch Sparen oder Produzieren erreicht wird, sondern durch mehr Konsum. Sparen schafft kein Wirtschaftswachstum, ebenso wie ein Leistungsbilanzüberschuss keinen messbaren Wohlstand schafft. Doch die deutsche Politik scheint immer noch nicht die Verantwortung für den Handelsüberschuss der deutschen Wirtschaft zu übernehmen, denn dieser wird einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und einem schwachen Euro-Devisenkurs zugeschrieben. Auf beides hat die deutsche Politik wenig Einfluss.
Die Aussagen von Frankreich und Italien deuten auf den Wunsch hin, die Fiskalpolitik stärker antizyklisch zu gestalten. Dagegen mag nichts einzuwenden sein. Auch an einer Konzentration auf die Sicherstellung einer ausreichenden Nachfrage mag gemäß Keynes nichts auszusetzen sein. Strukturelle Probleme eines Landes können allerdings nicht alleine durch eine expansive Fiskalpolitik gelöst werden. Keynesianismus ist krisenorientierte Wirtschaftspolitik und kein Dauerzustand. Das Potenzialwachstum wird durch Kapital, Arbeit und Produktivität/Technologie bestimmt. Sicherlich mögen kurzfristige konjunkturelle Stützungsmaßnahmen das Potenzialwachstum unterstützen, dass eine zunehmende Nachfrage für mehr Investitionen sorgt; doch ein nachhaltiges Anziehen der Investitionen braucht richtige Rahmenbedingungen für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Ohne ausreichende Kapazitätsausweitung führt eine Nachfrageausweitung zu Inflation oder einem steigenden Handelsbilanzdefizit. Die Lösung für Italien liegt nicht in einer expansiveren Ausgabenpolitik. Die Angebotsseite bzw. Investitionen müssen sensitiver auf eine Nachfrageausweitung reagieren. Auch aus dieser Sicht sind jüngste Kommentare, und vor allem die Pläne der neuen italienischen Regierung, mit Sorge zu sehen; denn der eigentliche Grund für die seit Jahrzehnten andauernde Phase des italienischen Niedrigwachstums liegt nicht in einer zu restriktiven Fiskalpolitik sondern in der Reformmüdigkeit des Landes.
Wenn der Gedanke einer anhaltenden Krisenpolitik bereits während einer Boomphase nicht erlöscht, was werden die Argumente in einem Abschwung sein? Aktuell ist die Konjunkturdynamik noch ausreichend gut, um die Abkehr von eigentlich bindenden Verträgen zuzudecken. Doch ein Wirtschafts- und Währungsraum kann nicht auf der Annahme einer anhaltenden Konjunkturbelebung aufgebaut sein. Ist die nächste Vertrauenskrise in der Euro-Zone schon vorprogrammiert? Vielleicht wagen Italien – und vor allem Frankreich – auszusprechen, was nicht nur jeder schon weiß, sondern was von allen bereits praktiziert wird; nämlich, dass die Einhaltung der Verträge nur konditional zur Konjunkturlage bzw. den Eigeninteressen der Mitgliedsländer zu sehen ist. Doch mit der Finanzkrise hat diese Haltung eine neue Dimension angenommen, in dem Sinne, dass es auch offiziell (siehe ESM) immer weniger Gründe gibt, sich an Richtlinien zu halten. Dies wirft dann die Frage nach neuen Richtlinien auf. Hier prescht vor allem Frankreich mit seinen Vorstellungen einer erhöhten Befugnis von Brüssel und einer Vergemeinschaftung von Problemen auf Euro-Ebene voran.
Seit der Finanz- und Euro-Krise entfernt sich die Euro-Zone vom Gedanken der Eigenverantwortung hin zu Vergemeinschaftung mit der Begründung, dass dies die Einheit in der Euro-Zone – und damit ihren Erhalt – stärken würde. Doch die unterschiedliche Sichtweise von Frankreich und Italien auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite zeigt, dass eine Gleichsetzung nationaler Interessen bzgl. der Fiskal- und Wirtschaftspolitik am Ende niemanden zufriedenstellen bzw. immer wieder ein Stein des Anstoßes sein wird. Allerdings sei hier nochmals erwähnt, dass die deutschen Interessen nicht unbedingt diagonal verschieden sind. Dies haben die Maastricht-Verletzungen von Deutschland bereits gezeigt. Eine Ländergemeinschaft ist nur dann stabil, wenn jedes Land Verantwortung für seine Politik auch gegenüber der Gemeinschaft übernimmt und nicht, wenn alle Pflichten sozialisiert werden. Präsident Macron macht sich stark für einen europäischen Währungsfond und einen Euro-Finanzminister mit weitreichenden Befugnissen und Budgetverantwortung. Was nötig ist, ist die Wiederherstellung von Marktpreisen als Signal und Sanktionsmechanismus für eine fehlgeleitete Fiskal- bzw. Wirtschaftspolitik; denn die Erfahrung mit dem Maastricht-Vertrag hat gezeigt, dass Verträge zwischen Ländern eher ineffektiv sind, wenn es darum geht, falsches Verhalten ausreichend zu sanktionieren. Bestrebungen, die Euro-Zone durch mehr Regeln, Machtkonzentration und einer anhaltend expansiven Fiskalpolitik krisensicher zu gestalten, sind ein Trugschluss; ebenso der Glaube, dass Verträge das Verhalten von Ländern ausreichend in vor allem wirtschaftlich schwierigen Zeiten definieren. Gebraucht wird mehr fiskalische Diskretion in Kombination mit mehr Eigenverantwortung – nicht auf Basis von Verträgen sondern bewertet durch Marktpreise. Die letzten Jahre waren jedoch dadurch geprägt, dass jegliche Marktpreisreaktion – in Form von zum Beispiel steigenden Zinsen – durch die Notenbank und den Rettungsschirm eliminiert wurde. Beides sind oder sollen permanente Institutionen werden.
Fazit
Sparen schafft kein Wachstum. Erforderlich ist eine effektive Nachfrage, die durchaus durch die Fiskalpolitik stimuliert werden kann. Doch eine expansive, keynesianische Wirtschaftspolitik ist keine Lösung für eine grundsätzliche strukturelle Wachstumsschwäche, sondern sie ist eine Politik für Krisenzeiten. In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Äußerungen Italiens und Frankreichs über die „deutsche Besessenheit zum Sparen“ überraschend, da sich die Euro-Zone im fünften Jahr ihrer konjunkturellen Erholung befindet. Doch es ist weniger Deutschland, das am Pranger steht, sondern es sind vielmehr die Verträge von Maastricht, die als nicht mehr bindend angesehen werden. So passen die jüngsten Aussagen der Nachbarländer zu dem, was mit dem Rettungsmechanismus der Euro-Zone begonnen hat: Die grundsätzliche Abschaffung der alten Ordnung und die offizielle Abkehr von eigentlich bindenden Verträgen. Diese Tendenzen sollten mit dem nächsten konjunkturellen Abschwung deutlich an Fahrt gewinnen. Und auch, wenn eine aktive Fiskalpolitik durchaus ihre Berechtigung hat, ist es ein Trugschluss zu glauben, damit den Erhalt der Euro-Zone zu sichern. Benötigt sind effektive Sanktionierungsmechanismen für falsches Verhalten. Dies legt den Fokus auf eine Sanktionierung durch Marktpreise. Die Euro-Zone scheint jedoch leider einen anderen Weg zu gehen.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Zudem lehrt der promovierte Volkswirtschaftler an der Nelson Mandela University in Südafrika. Zuvor arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen.
Hinterlasse einen Kommentar