[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 18. Januar 2024]
Die Europäische Kommission, die Leiter der nationalen Arzneimittelbehörden und die EMA haben im Dezember 2023 die erste Version der „Union list” kritischer Arzneimittel veröffentlicht. Diese enthält über 200 Wirkstoffe von Arzneimitteln, die für die Gesundheitssysteme in der gesamten EU von Bedeutung sind und bei denen „die Kontinuität der Versorgung oberste Priorität hat und Engpässe vermieden werden sollten.” In Deutschland und der EU herrscht allerdings auch in diesem Winter wieder Arzneimittelknappheit. Zum 17. Januar 2024 meldete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Lieferengpässe bei 499 verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Ursachen für diese Lieferprobleme sind hinlänglich bekannt. Bereits seit den 80er Jahren wurden China und Indien mit ihren geringere Personal- und Energiekosten sowie weniger strengen Umweltauflagen und schnelleren Genehmigungsverfahren zu bedeutenden Wirkstoff- und Generikaproduzenten und damit zur „Apotheke der Welt“. Kommt es dort zu Produktionsausfällen oder Verunreinigungen oder wie zuletzt zu einer Pandemie, schlägt dies sehr schnell auf die Versorgung Europas mit grundlegenden Arzneimitteln durch. Die Abwanderung der Medikamentenproduktion aus Deutschland bzw. Europa nach Asien wird immer wieder mit der Politik der Krankenkassen begründet, Rabattverträge abzuschließen, die für die Hersteller keine auskömmlichen Margen sichern. Problem erkannt – Problem gebannt? Oder „Same procedure as every year“?
Gesetzesbeschlüsse sollen Lieferengpässe verringern helfen
Bereits im Juli 2023 ist das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ (ALBVVG) in Kraft getreten. Ziel ist es, insbesondere die Versorgungssituation bei patentfreien Arzneimitteln sowie Kinderarzneimitteln zu verbessern, die Vielfalt der Arzneimittel-Anbieter zu erhöhen und damit die Lieferketten stärker zu diversifizieren. So sollen europäische Produzenten – im ersten Schritt nur bei Antibiotika – besser zum Zuge kommen. Denn die Krankenkassen verpflichten sich, bei ihren Rabattverträgen Hersteller mit Wirkstoffproduktion in der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum zusätzlich als Lieferanten zu berücksichtigen. Außerdem richtet das BfArM ein Frühwarnsystem ein, das drohende versorgungsrelevante Lieferengpässe bei Arzneimitteln frühzeitig erkennen soll. Des Weiteren sollen für bestimmte wichtige Medikamente größere Vorräte als bisher gehalten werden, z.B. in Krankenhausapotheken.
Vor knapp einem Monat hat die Bundesregierung zudem eine umfangreiche neue Pharmastrategie beschlossen mit dem Ziel, den Pharmastandort Deutschland für Forschung und Entwicklung deutlich attraktiver zu machen. Dessen Bedeutung hat in den letzten Jahren massiv abgenommen (s. Grafik). China hat Deutschland bei Chemie- und Pharmapatentanmeldungen inzwischen deutlich überholt und auch Korea zog 2020 an Deutschland vorbei.
Kernpunkte der Reform sind daher die Beschleunigung klinischer Prüfungen und der Digitalisierung. Insbesondere Innovations- und Forschungsprojekte sollen dadurch stärker gefördert werden. Pharmaunternehmen wird nunmehr auf Antrag die Forschung anhand von Gesundheitsdaten ermöglicht. Das geplante Medizinforschungsgesetz ist eng mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) verzahnt. Mit diesen Maßnahmen und einem parallellaufenden Bürokratieabbau hofft die Politik, das Gap zu Forschungsmöglichkeiten in anderen Staaten wie die USA zu schließen. Der Beschluss sieht außerdem vor, bei Rabattverträgen neben den genannten Antibiotika künftig auch bei onkologischen Krankheiten Medikamente zu bevorzugen, die in der EU hergestellt sind.
Weitere Unterstützungsmöglichkeiten
Im Wachstumschancengesetz ist eine umfangreiche Ausweitung der steuerlichen Forschungsförderung (Forschungszulage) vorgesehen, wovon auch in Deutschland forschende Pharmaunternehmen profitieren sollen. Über den „Wachstumsfonds Deutschland“ und diverse Initiativen stellen Bund und Länder zudem Wagniskapital zur Verfügung, um auch kleine und mittlere Unternehmen in diesem Marktsegment zu fördern.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und das Bundesministerium für Gesundheit prüfen derzeit Förderinstrumente wie Investitionsbezuschussungen für den Aufbau neuer Produktionsstätten.
Deutschland: Pharmastandort der Zukunft?
Deutschland ist mit seinem Umsatzvolumen von über 52 Mrd. € im Jahr 2022 unbestritten der größte Pharmastandort innerhalb Europas. Und sicherlich gehen die aufgezeigten Änderungen in die richtige Richtung. Eine kurzfristige Auswirkung nach Inkrafttreten der neuen Regelungen im Frühjahr oder Sommer 2024 sieht die IKB aktuell allerdings noch nicht. Das betrifft vor allem die Ansiedlung von Produktionsstätten. Dazu bräuchte es sicherlich neben der Veränderung der langfristigen Rahmenbedingungen konkrete Maßnahmen und Förderungen, die für die Pharmahersteller entsprechende Anreize setzen. Denn nach wie vor kämpfen diese noch mit weiteren unternehmerischen Herausforderungen wie dem Preisdruck aufgrund der gängigen Arzneimittelerstattungen, überbordender Bürokratie und der Erwartung, einen stärkeren Fokus auf Nachhaltigkeit zu legen. Immerhin kann Deutschland mit gut ausgebildeten Arbeitskräften und einem im Vergleich zu anderen Ländern schnellen Zugang der Patienten zu innovativen Medikamenten punkten. Dies waren sicherlich auch Gründe für die kürzliche Entscheidung des US-amerikanischen Unternehmens Eli Lilly über 2 Mrd. € in den Bau eines neuen Werkes für injizierbare Medikamente in Alzey zu investieren. Das macht sicherlich grundsätzlich Hoffnung für den deutschen Pharmastandort. Eine schnelle Ansiedlung weiterer Betriebe und die kurz- bis mittelfristige Behebung der Lieferengpässe erwartet die IKB jedoch nicht.
Johanna Eckert-Kömen betreut als Direktorin im Sektorteam Consumer, Retail, Logistics & Health der IKB insbesondere Unternehmen aus den Branchen Healthcare Services, Medizintechnik, Pharma sowie Kosmetik und ist involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Studium der Volkswirtschaft an der Universität des Saarlandes stieß sie bereits 1991 zur IKB.
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