[Consumer & Retail-Information vom 26. Juni 2019] Aktuell ist die Nachhaltigkeitsdiskussion beim Konsum in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Handel und Hersteller sehen sich mehr denn je mit der Frage konfrontiert, wie nachhaltig ihre Produkte und ihre gesamte Wertschöpfung sind. Dabei spielt der Aspekt der Ökologie – insb. Bio-Lebensmittel, Klimaerwärmung, Ressourcenschonung und Verpackungsmüll – eine tragende Rolle für das Verbraucherverhalten.
Beispiel Bio: Der Anteil von Biowaren der unterschiedlichen Standards am Lebensmittelkonsum steigt kontinuierlich. Im vergangenen Jahr gaben deutsche Verbraucher 5,5 % mehr für Bio-Lebensmittel aus, laut BOLW 10,9 Mrd. €. Der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) insgesamt (+ 8,6 %), aber insbesondere LEH-Discounter legten durch Sortimentsausweitungen überdurchschnittlich zu. Mittelfristig sieht die IKB ein anhaltendes Wachstum der Nachfrage nach Biowaren, was Lebensmittelproduzenten vor entsprechende Herausforderungen bei Sortimentsgestaltung sowie Prozess- und Rohwarensicherung stellt.
Beispiel Verpackung: Kunststoffabfälle sind einer der wesentlichen Aufhänger der Nachhaltigkeitsdebatte, welche von der Umweltpolitik aufgenommen wurden. Kernelemente sind die ökologische Weiterentwicklung von Verpackungen, die Erhöhung von Recyclingquoten oder mögliche Verbote. Gesetzliche Regulierungen sind ein Punkt, aber der Verbraucher reagiert vor Ort oftmals schneller. Hersteller und Handel können hier antizipieren. Die Veränderung der Gebindestrukturen bei alkoholfreien Getränken wieder hin zu (Glas)Mehrweg-Produkten ist ein Beispiel, ebenso die Einführung von wiederverwendbaren Obst- und Gemüsebeuteln. Zukünftig wird die Entscheidung für oder gegen ein Produkt über das verwendete Verpackungsmaterial eklatant wichtiger.
Nachhaltig ja, aber dafür Premium bezahlen?
Der deutsche Kunde ist beim Lebensmitteleinkauf im europäischen Vergleich ausgesprochen preissensibel, das Preisniveau für Lebensmittel in Deutschland ist wettbewerbsbedingt niedrig. Obwohl in den vergangenen Jahren eine zunehmende Qualitätsorientierung zu beobachten ist, rangieren je nach Befragung der Preis bzw. das Preis-/Leistungsverhältnis als Kriterium weiterhin weit oben bei der Kaufentscheidung.
Der Spagat für Lebensmittelhersteller und Handel liegt deshalb darin, dass große Teile der Verbraucher bislang nur bedingt bereit sind, einen adäquaten Preisaufschlag für nachhaltige Waren zu zahlen. Der Handel berichtet regelmäßig von diesem Margenproblem. Die sogenannte Mehrzahlungsbereitschaft für grüne Produkte im Vergleich zum „Durchschnittspreis“ liegt nach allgemeiner Einschätzung bei rund 30 %.
Wird das so bleiben? Mindestens drei Entwicklungen sprechen nach unserer Einschätzung dagegen:
- Die Motivationslage bzw. das sogenannte Involvement, also das innere Engagement, ändern sich; beim Kauf sind das etwa die Affinität zu Marken, die Suche nach Individualität und das zunehmende Umweltbewusstsein
- Die Aspekte der Nachhaltigkeit werden zunehmend benannt, sowohl auf Produkt- als auch auf Marken- und Imageebene
- Die Verfügbarkeit von nachhaltigen Lebensmitteln im LEH sowie die Sortimentsbreite mit direkter Preisvergleichbarkeit am POS nehmen zu, umgekehrt nimmt der Aufwand für den Einkauf ab
Hinzu kommt, dass nachhaltige Lebensmittel zwar in der Regel deutlich teurer sind als konventionelle Produkte, dies aber nicht im direkten Vergleich mit den Premiummarkenprodukten einer Category zutrifft. Warum also Nachhaltigkeit nicht entsprechend als Premium positionieren?
Nachhaltigkeit = Erfolgsfaktor = Ertragsfaktor
Für jene Hersteller und Händler, die das Thema „in ihrer DNA tragen“, sind die Produktionsstrukturen angepasst, die Kommunikation mit der Zielgruppe ist vertraut, die Beschaffungswege sind optimiert. Hersteller und Händler aus dem konventionellen Bereich sehen sich hingegen in der Regel mit neuen und komplexen Herausforderungen sowie teilweise parallelen Strukturen konfrontiert, wenn sie das Thema Nachhaltigkeit angehen. Hinzu kommt, dass die Mengen bisweilen oft zu niedrig sind, um in der gewohnten Kalkulation gegenüber dem wettbewerbsintensiven LEH und in den bestehenden Produktionsstrukturen ertragreich zu arbeiten.
Abwarten ist allerdings definitiv keine Lösung. Der LEH treibt das Thema Nachhaltigkeit und entwickelt es zum Positionierungsbaustein im Marktantritt, der Verbraucher sucht ein adäquates Angebot.
Die notwendigen Mengengerüste in den verschiedenen Warengruppen werden kommen – mit abgestuften Nachhaltigkeitselementen und -versprechen. Zudem kommen Food-Startups auf den Markt, die ihr Geschäftsmodell auf wesentliche Nachhaltigkeitsaspekte ausrichten. Sie sind in den Augen der Verbraucher authentisch sowie klein und somit glaubwürdig(er). Als Nischenplayer sind sie gut abgegrenzt vom Mainstream und genießen eine entsprechende Aufmerksamkeit, was sie interessant macht für Handelspartner.
Wir erwarten, dass sich ein Preisgefüge am Markt bilden wird, das die Rentabilität gegenüber konventioneller Produktion gewährleistet. Zudem hat das Thema Nachhaltigkeit direkte Umsatz- und Ertragsrelevanz. Nachhaltigkeit beeinflusst das Unternehmensimage zunehmend (Facit Research, Konsumentenbefragung 2017 und früher) und darüber die Markenloyalität. Die positive Wirkungsweise dieser Erfolgsfaktoren auf Umsatz und Ertrag liegt auf der Hand.
Unternehmenszukunft nachhaltig erfolgreich gestalten
Die Verbraucher werden zukünftig mehr als bislang Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt übernehmen (wollen). Dies erwarten sie gleichzeitig auch von Handel und Herstellern.
Das momentan stark medial unterlegte Thema bewerten wir in keiner Weise als Hype. Es wird weiter an Breite gewinnen und sich über alle Warengruppen mit entsprechender Umsatzbedeutung etablieren. Die augenblicklich verspürte Dynamik auf der Konsumentenseite ist dabei Fluch und Segen zugleich für Lebensmittelindustrie und -handel: Fluch, da es einen gewissen zeitlichen Druck gibt, den Trend aufzunehmen und zu implementieren, ohne Fehler zu machen, die in Richtung „Greenwashing“ gehen. Segen, da sich mit der Motivationsveränderung beim Lebensmitteleinkauf, die klar spürbar ist, die Chance bietet, Wertschöpfung über die gesamte Produktion- und Distributionskette zu generieren, die ein zukunftsfähiges Fundament hat.
Nachhaltigkeit wird ein zentraler Erfolgsfaktor für Lebensmittelindustrie und -handel 2020+.
Johannes Sausen ist Direktor und Leiter des Sektorvertriebs der IKB sowie Head of Consumer, Retail, Logistics & Health. Sein persönlicher Branchenschwerpunkt liegt in den Bereichen Consumer Food, ausgewählten Consumer Nonfood-Segmenten sowie im Einzelhandel. Er ist involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank in den genannten Branchen. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln hat er seine ersten fünf Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 1999 zur IKB stieß.
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