[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 8. Oktober 2020] Die erfolgsverwöhnte deutsche Medizintechnik-Branche leidet in diesem Jahr unter den Folgen des seit Monaten ungewöhnlichen Krankenhaus- und Arztbetriebs, der weltweit durch massive Rückgänge bei verschiebbaren Eingriffen geprägt ist. Die innovative Branche setzt verstärkt auf Digitalisierung und erarbeitet auf Grundlage der Erfahrungen in der Coronakrise Ideen zur Bestandssicherung von Medizinprodukten in der EU.
Umsatzprognose für das Jahr 2020: Deutschland -4,9 %
Die Prognose für den Umsatzrückgang in diesem Jahr liegt nach Angaben des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) bei durchschnittlich 4,9 %. Im vergangenen Jahr gab es noch ein Plus von 3,3 %. Kleinere Unternehmen sind dabei aktuell stärker betroffen: Unternehmen mit einem Umsatz unter 25 Mio. € erwarten im Schnitt sogar ein Umsatzminus von 6,4 %. Eine Auswertung nach Produktbereichen zeigt, dass vor allem Implantate mit -7,9 % sowie OP-Produkte und OP-Sets mit -6,7 % von Corona tangiert sind. Verbandmittel verzeichnen im Durchschnitt eine Umsatzreduktion von -3,2 %, Hilfsmittel von -2,6 %. In Deutschland sind sowohl Inlandsabsatz als auch Exporte der Branche massiv zurück gegangen. Dies hängt damit zusammen, dass die Menschen aus Angst vor Ansteckung deutlich weniger zum Arzt gegangen sind. Über Monate hinweg ist die Zahl der verschiebbaren (elektiven) Eingriffe weltweit massiv eingebrochen. Im Mai 2020 veröffentlichte das British Journal of Surgery, die Einschätzung, dass in diesem Jahr aufgrund der Coronakrise weltweit circa 28,4 Mio. elektive Eingriffe gecancelt bzw. verschoben werden. Weltweit dürfte der Umsatz mit Medizinprodukten – nach Jahren der Steigerungen von um die 6 % – gegenüber dem Vorjahr um 5 % nachgeben.
Investitionen laufen in Digitalisierung und Produktionskapazitäten für medizinische Schutzprodukte
Die in der letzten Woche veröffentlichte Herbstumfrage 2020 des BVMed zeigt, die Stärke des MedTech-Standorts Deutschland liegt insbesondere in gut ausgebildeten Fachkräften, die allerdings auch in diesem Sektor zunehmend fehlen. Daneben werden die Infrastruktur und das hohe Niveau des deutschen Gesundheitssystems als Vorteil gesehen, was sich in einer ausgezeichneten Patientenversorgung spiegelt. Bemängelt werden erneut die zusätzlichen regulatorischen Anforderungen durch die EU–Medizinprodukteverordnung (MDR), die beachtliche Aufwendungen ausgelöst haben. Auch der Brexit wird eine neue Zertifizierungswelle nötig machen. Außerdem macht den Medizintechnik-Unternehmen der zunehmende Preisdruck durch die Krankenhauseinkaufsgemeinschaften zu schaffen. Als besonders innovativ schätzen die Firmen, die im Durchschnitt 9 % ihres Umsatzes in F&E investieren, die Indikationsbereiche Kardiologie, Diagnostik, Onkologie und Neurologie ein. Was die Investitionstätigkeit betrifft, so gaben immerhin 21 % der befragten Unternehmen an, ihre Investitionen am Standort zu erhöhen, beispielsweise durch den Aufbau neuer Produktionskapazitäten für medizinische Schutzprodukte oder für Digitalisierungsprojekte. So gaben 39 % der MedTech-Unternehmen an, bei der Entwicklung digitaler Lösungen bereits mit Start-ups zusammenzuarbeiten. Das größte Potenzial bei den digitalen Technologien sehen die befragten Unternehmen in Datenanalysen, Apps, Big-Data-Anwendungen und Künstlicher Intelligenz.
Zukünftige digitale Bestandsplattform?
Ob der Vorschlag der Digitalen Bestandsplattform für Versorgungskritische Medizinprodukte, die der BVMed gemacht hat, von der Politik und der Industrie gehört und entsprechend umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Langfristiges Ziel soll dabei sein, außereuropäische Abhängigkeiten zu vermeiden. Neben der Medizintechnik-Branche wird auch die Pharmaindustrie involviert sein. Im Kern geht es darum, kritische Arznei- und Medizinprodukte zu definieren, Produkte bzw. Rohmaterialien zu ermitteln, die nicht in der EU produziert werden, und Teilnehmer sowie den Zugang für die Bestandsplattform festzulegen. Dies alles unter Nutzung eines einheitlichen Produktions- und Klassifikationsstandards.
Johanna Eckert-Kömen betreut als Direktorin im Sektorteam Consumer, Retail, Logistics & Health der IKB insbesondere Unternehmen aus den Branchen Healthcare Services, Medizintechnik, Pharma sowie Kosmetik und ist involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Studium der Volkswirtschaft an der Universität des Saarlandes stieß sie bereits 1991 zur IKB.
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