[Kapitalmarkt-News vom 23. September 2022]
Fazit: Einmalzahlungen von Unternehmen dämpfen aktuell den realen effektiven Einkommensverlust ihrer Beschäftigten. Deshalb sind die verhandelten Anstiege bei den Tariflöhnen bis dato relativ moderat geblieben. Da es jedoch kurzfristig nicht zu einer Deflation kommen wird, verschieben die Einmalzahlungen den zu erwartenden Lohnkonflikt nur ins kommende Jahr. Die bevorstehende Rezession wird allerdings zunehmend zu Kurzarbeit führen, sodass die realen effektiven Löhne im Jahr 2023 spürbar unter Druck kommen werden.
Doch auch die Unternehmen werden es angesichts von schwacher Konjunktur, Lohndruck und Fachkräftemangel schwer haben, ihre Gewinnerwartungen aufrecht zu halten.
Um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu stärken, wäre allerdings ein Anpassungsprozess bei den realen Löhnen wünschenswert. Aufgrund der sich aufbauenden Lohnforderungen ist jedoch davon auszugehen, dass vor allem die Kurzarbeit ausgeweitet wird.
Zunehmende Divergenz zwischen Tarif und effektiven Löhnen
Die meisten Volkswirte gehen inzwischen von einer Rezession in Deutschland zum Jahresende aus. Dementsprechend hat sich die Konjunkturerwartung für 2023 deutlich verschlechtert, und für das kommende Jahr ist nun insgesamt von einer negativen Wachstumsrate auszugehen. Auch die IKB erwartet aktuell für 2023 einen BIP-Rückgang von rund 1 %, während die Wirtschaft im Jahr 2022 voraussichtlich noch um insgesamt 1,5 % zulegen wird. Gründe für diesen spürbaren Rückgang gibt es genug: Zinsanhebungen, globale Konjunktureintrübungen, aber vor allem ein enorm hoher realer Einkommensverlust der deutschen Haushalte infolge der allgemeinen Inflation und vor allem der eskalierenden Gas- und Strompreise – hier ist ein Ende noch nicht abzusehen. Doch während die Tariflöhne zwischen dem zweiten Quartal 2021 und dem zweiten Quartal 2022 ein Wachstum von nur 2,1 % aufwiesen, lag der effektive Lohnanstieg in der Wirtschaft immerhin bei 4,5 %. Wie ist dies zu bewerten und welche weitere Entwicklung ist zu erwarten?
Die deutliche Divergenz zwischen Tarif und effektiven Lohnanstiegen resultiert vor allem aus Einmalzahlungen. Mit ihnen versuchen Unternehmen, dem durch die Inflation verursachten Lohndruck entgegenzuwirken. Sie entlasten die Arbeitnehmer aber nur kurzfristig. Denn nur wenn die Verbraucherpreise bald sinken würden, es also zu einer Deflation käme, würden solche Einmalzahlungen ausreichen, um den realen Lohnverlust aufzufangen. Aktuelle Inflationsprognosen deuten jedoch auf alles andere als eine Deflation hin. Positiv betrachtet, zeigt die Divergenz von Tarif- und effektiven Lohnerhöhungen die zunehmende Bereitschaft von Unternehmen, die Löhne im Schatten der eskalierenden Inflation proaktiv anzuheben. Dies erklärt zusammen mit der hohen Unsicherheit infolge des Ukrainekriegs, warum die Tarifanstiege bis dato eher moderat verlaufen. Denn aufgrund der Inflationsentwicklung und der Erwartungen hätten die Tariflöhne schon deutlich spürbarer ansteigen müssen. Da jedoch viele der „freiwilligen“ Zahlungen durch die Unternehmen einmalig sind, wird der effektive Lohn schon kurzfristig wieder sinken. So helfen die Einmalzahlungen zwar, den realen Lohneinbruch kurzfristig zu dämpfen, Forderungen nach dauerhaft steigenden Löhnen werden allerdings nur verschoben, sofern die Reallöhne nicht weiter sinken sollen. Im aktuellen konjunkturellen Umfeld mag diese Entwicklung durch die zunehmende Notwendigkeit von Kurzarbeit noch verschärft werden.
Zunehmender Druck durch Tarifforderungen im Jahr 2023 zu erwarten
Der Lohndruck wird im Jahr 2023 außerordentlich hoch sein. Denn Tariflöhne werden in der Regel von der zurückliegenden Inflation bestimmt. Soll heißen: Die Inflation im Jahr 2022 und nicht die erwartete Inflation des Jahres 2024 wird die Tarifforderungen im Jahr 2023 maßgeblich bestimmen. Zudem wird der Inflationsdruck anhalten, weil die Inflationsrate auch im Jahr 2023 hoch bleiben wird. Prognosen sehen sie auf Basis des Verbraucherpreisindex (VPI) bei über 5 %. Doch während die Entwicklung der Tariflöhne hauptsächlich durch die Inflationsrate und die Anzahl der Erwerbstätigen bzw. vom Arbeitsmarkt bestimmt wird, spielen bei den effektiven Lohnentwicklungen nicht nur die Tariflöhne eine Rolle, sondern vor allem auch die Konjunktur. Die absehbare Rezession wird sich demnach negativ auswirken und den effektiven Lohnanstieg etwas dämpfen.
Laut IKB-Modellen ist im kommenden Jahr von einem spürbaren Anstieg sowohl der Tarif- wie auch der effektiven Löhne auszugehen. Die Prognosen in Abb. 2 beruhen auf einem BIP-Rückgang im Jahr 2023 von rund 1 % und einer VPI-Inflationsrate von deutlich über 5 %, wobei die hohe Inflationsrate in diesem Jahr der entscheidende Treiber ist. Im Schatten der schwachen Konjunktur ist eine ausweitende Diskrepanz zwischen Tarif- und effektiven Lohnanstiegen nicht überraschend. So steuert die deutsche Wirtschaft auf einen Konflikt zu: Zum einen werden sich deutliche Lohnforderungen im Jahr 2023 nicht durch aktuelle Einmalzahlungen verhindern lassen. Der Lohndruck wird durch den aktuellen Personal- und Fachkräftemangel sowie die Inflationserwartungen verstärkt. Zum anderen werden die konjunkturellen Realitäten spürbaren Druck auf die Unternehmensgewinne ausüben, was wiederum die effektiven Lohnanstiege reduzieren sollte.
Der Mindestlohn wird auch infolge der Anhebung im Oktober von 10,45 € auf 12 € Ende 2022 im Jahresdurchschnitt um über 10 % im Vergleich zum Vorjahr angestiegen sein. Könnte die Anhebung des Mindestlohns den effektiven Löhnen weiter Auftrieb geben? Empirisch lässt sich dies jedoch nicht bestätigen. Sprich: Die Differenz zwischen den Anstiegen in den Tarifen und bei den effektiven Löhnen kann nicht durch Anstiege beim Mindestlohn erklärt werden. Was hingegen bedeutend ist, ist der Effekt der Kurzarbeit. Steigt sie an, so dämpft das die effektiven Lohnanstiege, was wenig überrascht. Ein Anstieg der Kurzarbeit wird demnach wichtig sein, um die effektiven Lohnanstiege bzw. die Lohnstückkosten zu dämpfen und die Margen der Unternehmen im Schatten der Rezession zu retten. Die Modellsimulationen der IKB über die Höhe der zu erwartenden Tarif- und effektiven Lohnanstiege deutet auf die Notwendigkeit eines zunehmenden Anstiegs der Kurzarbeit in den kommenden Monaten hin; vor allem infolge des erwarteten BIP-Rückgangs, der ohne Lohnzurückhaltung oder Stellenabbau die Lohnstückkosten ansteigen lassen würde (siehe auch IKB Kapitalmarkt-News über Kurzarbeit). Dann könnte der effektive Lohnanstieg noch weiter unter die Modellsimulation sinken, was den realen Einkommensverlust verstärken wird.
Einschätzung: Wer bezahlt für den Anpassungsprozess?
Für die Unternehmen bleibt der Ausblick herausfordernd: Ansteigende Lohnstückkosten im Schatten von BIP-Rückgang und hohen Lohnforderungen werden die Margen bzw. das Gewinnpotenzial am Standort Deutschland belasten. So ist mit einem Rückgang des Arbeitgeberanteils am Volkseinkommen zu rechnen. Dies ist eine für eine Rezession typische Entwicklung, die aber in den kommenden Quartalen die Investitionsbereitschaft dämpfen wird.
Der eigentliche Druck aus den Tarifverhandlungen steht der deutschen Wirtschaft noch bevor. Vor allem im Jahr 2023 ist von spürbarem Lohndruck auszugehen, der bei einer negativen BIP-Entwicklung auch zu spürbarem Druck bei den Lohnstückkosten führen sollte. Der Ausblick für den Standort Deutschland bleibt deshalb getrübt. Dies gilt für die Rezession Winter 2022, aber auch für das gesamte Jahr 2023. Die IKB hält an ihrer Einschätzung fest, dass die Kurzarbeit zusammen mit rückläufigen Rohstoffpreisen eine wichtige Stütze für Margen und Gewinnentwicklung der Unternehmen sein wird. Ebenfalls werden das reale Einkommen und damit die Kaufkraft der deutschen Haushalte noch auf Sicht unter Druck bleiben.
Der volkswirtschaftliche Kuchen schrumpft (BIP-Rückgang). Realisieren sich die Lohnansprüche, wie durch die Simulation angedeutet, so werden die Unternehmen die Hauptlast der Anpassung tragen, die Gewinne werden einbrechen und der Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen wird deutlich ansteigen. Unterstützt wird dies durch den Personal- bzw. Fachkräftemangel, der einen Anstieg der Arbeitslosenquote eher unwahrscheinlich macht. Wird der Staat die Lohnkosten durch Kurzarbeit subventionieren, wird hingegen vor allem das reale Einkommen belastet werden und insbesondere die privaten Haushalte werden Anpassungen hin zu einer niedrigeren Inflation schultern müssen. Allerdings würde Kurzarbeit einem forcierten Stellenabbau am Standort Deutschland entgegenwirken. Es scheint, als ob trotz der zu erwartenden hohen Lohnforderungen vor allem die Arbeitnehmer den notwendigen Anpassungsprozess werden bewältigen müssen.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
Hinterlasse einen Kommentar