[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 22. April 2021]
Seit Ende 2020 steigen die Kunststoffpreise in Europa über alle Produktgruppen hinweg stetig an. Die Kurssprünge der Vorprodukte werden dabei von den Herstellern der Standard-Thermoplaste noch einmal vervielfacht. So werden die Margeneinbußen der letzten Jahre bei Petrochemikalien mehr als wett gemacht. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und reichen von einem steigenden Öl- und Naphthapreis, über eine Nachfrage, die größer ist als erwartet, bis zu ungewöhnlich vielen Anlagenausfällen in Europa und den USA. Die Kunststoffverarbeiter leiden besonders unter dieser Entwicklung, da sie häufig nur wenig Rohstoff zugeteilt bekommen und dieser jeden Monat deutlich teurer wird. Die ersten Verarbeiter stoppen bereits Teile ihrer Produktionslinien, um Verluste kurzfristig zu minimieren. Gleichzeitig wächst das Working Capital stark an, sodass der Cashflow leidet. Einige Verarbeiter fürchten um ihre Existenz.
Kurzfristig weitere Preissteigerungen möglich
Die derzeitige Versorgungslage in Europa ist eng, bei gleichzeitig normaler bis hoher Nachfrage. Während die Erdöl- und Naphtha-Versorgung im normalen Bereich liegt, sorgen einige Anlagenausfälle und verschiedene Wetterphänomene für Versorgungsengpässe bei Vorprodukten und Basisthermoplasten. Dies könnte ein Arbitragefenster für asiatische Anbieter öffnen, die derzeit noch bevorzugt die hohe Nachfrage am heimischen Markt bedienen. Nachdem Wintersturm Uri für einige Wochen fast die gesamte Produktion an der Golfküste der USA lahmgelegt hat, laufen dort die Produktionen nur nach und nach wieder an, sodass im ersten Quartal auch aus dieser Richtung keine Entlastung für die Preise kommen konnte. Ungewöhnlich ist, dass aktuell durchweg alle Basiskunststoffe von Versorgungsengpässen und steigenden Preisen betroffen sind. Neue Produktionskapazitäten im Mittleren Osten, am Golf von Mexiko und in Asien starten größtenteils später als ursprünglich geplant, da die Investitionen im Zuge der Coronakrise geschoben wurden. Weitere unvorhersehbare Meldungen in den letzten Tagen veranlassen die IKB zu erwarten, dass die Preise in Europa bis mindestens Ende des zweiten Quartals 2021 auf hohem Niveau verharren bzw. weiter steigen könnten.
Mittelfristig Entspannung in Sicht
Derzeit schlagen die Preiserhöhungen in erster Linie bei den Kunststoffverarbeitern voll durch. Deren Preisgleitklauseln greifen teilweise nicht kurzfristig genug. Operative Verluste und steigendes Working Capital sorgen bei so manchem Unternehmen in dieser Situation für akute Liquiditätsengpässe. Während sich diese Lage kurzfristig nicht ändern wird, sieht die IKB auf mittlere Sicht Potenzial für Entspannung im Markt. Neue Kapazitäten bei Basiskunststoffen, höhere Importe und beendete Anlagenausfälle in Europa sollten ab dem dritten Quartal 2021 für rückläufige Preise sorgen. Auch der Ölpreis zeigt wenig Potenzial für große Sprünge nach oben. Nichtsdestotrotz haben wir im europäischen PVC-Markt seit 2015 beobachten können, dass eine einmal gewonnene Marge von den Kunststoffproduzenten relativ gut verteidigt werden kann. Auch deshalb gehen wir im Kunststoffmarkt bis mindestens Ende des Jahres von einem „New Normal“ aus und damit erstmalig seit einigen Jahren wieder von höheren Petrochemiemargen.
Sven Anders ist Abteilungsdirektor und Head des Sektorteams Industrials, Mobility & Construction der IKB. Er betreut insbesondere Unternehmen aus den Branchen Chemie und Pharma und ist hier involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Finance an der Norwegian School of Economics (NHH) hat er seine ersten beiden Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 2018 zur IKB stieß.
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