[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 24. März 2022]
Vergangene Woche hat der Verband der Chemischen Industrie (VCI) seine Produktionsprognose für das Jahr 2022 zurückgezogen und vor den Folgen eines Gasimportstopps aus Russland gewarnt. Die chemisch-pharmazeutische Industrie verbraucht ca. 15 % des deutschen Erdgases. 27 % davon werden stofflich und 73 % energetisch eingesetzt. Gerade in der Produktion von Wärme, die für die Chemieindustrie unerlässlich ist, kommt in erster Linie Erdgas zum Einsatz. Laut Informationsdienstleister MBI sind die Preise für Erdgas in der Spitze auf ca. 236 € / MWh gestiegen. Das historisch stabile Preisniveau lag vor der Corona-Krise und dem Krieg in der Ukraine bei ca. 30 € / MWh. Mittlerweile haben sich die Preise bei ca. 100 € / MWh eingependelt. Laut Statistischem Bundesamt sind die Erzeugerpreise im Februar um ca. 26 % gegenüber dem Vormonat gestiegen. Angesichts einer Inflationserwartung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft von 5,8 % für das Jahr 2022 werden viele Unternehmen in der Wertschöpfungskette zum Teil empfindliche Margeneinbußen hinnehmen müssen.
Düngemittel im Fokus
Im Düngemittelmarkt sind die Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine am deutlichsten zu spüren. Es ist das einzige Subsegment der chemisch-pharmazeutischen Industrie, bei dem die Außenhandelsbilanz mit Russland deutlich negativ ist. Deutschland importierte im Jahr 2020 laut VCI Anorganika im Wert von ca. 243 Mio. €. Für die Herstellung der Zwischenprodukte Ammoniak und Harnstoff werden große Mengen an Erdgas benötigt. Steigen die Preise für die Endprodukte nicht in gleichem Maße wie die für Erdgas, bzw. lagern die Düngemittelzwischenhändler aufgrund der hohen Preise nicht ein, lohnt sich die Produktion nicht mehr. Langfristig kann das Erdgas zwar durch Wasserstoff ersetzt werden, allerdings kann auf diese Weise keine kurzfristige Abhilfe geschaffen werden. Im Zuge der hohen Erdgas- und Kohlepreise sind natürlich auch die Strompreise stark gestiegen, da der Grenzkostenanbieter in diesem Markt den Preis bestimmt. Hier waren in der Spitze bis zu 487 € / MWh möglich, sodass auch die Produktion von Grünem Wasserstoff extrem kostspielig gewesen wäre, insofern es die nötige Infrastruktur schon großflächig gegeben hätte. Landwirte befürchten aufgrund der Situation auf den Düngemittelmärkten stark steigende Preise, die auch Endverbraucher spüren werden.
Wärmeversorgung entscheidend
Deutschland hat bisher stark auf Pipeline-Erdgas gesetzt, da es im Vergleich günstiger ist als Liquified Natural Gas (LNG). Nun wird diese Abhängigkeit jedoch zum geopolitischen Problem, denn die Industrie ist auf eine konstante Erdgasversorgung angewiesen. Chemische Anlagen können zum Teil nicht beliebig runter- und hochgefahren werden. Dies kostet viel Zeit und Geld oder kann Anlagen sogar beschädigen. Laut einer Umfrage des VCI leiden aktuell 70 % der Unternehmen stark oder sehr stark unter den hohen Energie- und Rohstoffpreisen. Während die Preise in der Basischemie häufig formel- und damit kostenbasiert sind, ist das in der Spezialchemie in der Regel nicht der Fall. Da dem Endkonsumenten keine extremen und kurzfristigen Preissteigerungen zugemutet werden können, leidet häufig die Rentabilität der Unternehmen. Weiterhin steigt der Liquiditätsbedarf enorm, um das steigende Umlaufvermögen zu finanzieren. Während also die direkten Auswirkungen auf die Branche handhabbar sind, da nur ca. 3 % der Exporte und 2 % der ausländischen Investitionen der Chemisch-Pharmazeutischen Industrie in die Krisenregion Belarus, Russland und Ukraine gehen, sind die Preiseffekte bedrohlich. Hinzu kommt, dass die Chemieindustrie Treiber der Klimaneutralität sein soll und sich daher elektrifizieren muss. Bei derart hohen Strompreisen ist dies jedoch ökonomisch aktuell nicht machbar.
Sven Anders ist Abteilungsdirektor und Head des Sektorteams Industrials, Mobility & Construction der IKB. Er betreut insbesondere Unternehmen aus den Branchen Chemie und Pharma und ist hier involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Finance an der Norwegian School of Economics (NHH) hat er seine ersten beiden Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 2018 zur IKB stieß.
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