[Kapitalmarkt-News vom 29. Mai 2019]
Kreditvergabe und Investitionen: Mögliche Übertreibungen überschaubar
Im Jahr 2017 verzeichnete das deutsche Verarbeitende Gewerbe das höchste Wachstum seit sechs Jahren. Volle Auftragsbücher und eine hohe Auslastung führten zu einer allgemein positiven Stimmung, die sich auch in den Geschäftserwartungen und Planzahlen vieler Unternehmen spiegelte. Infolge des deutlichen Produktionsrückgangs seit der zweiten Jahreshälfte 2018 sowie der nachlassenden Dynamik erwiesen sich die Geschäftsperspektiven als zu optimistisch, und es folgten klare Revisionen, die vor allem das Produktionswachstum im Jahr 2019 betreffen. Hat die starke Konjunkturzuversicht im Jahr 2017 und Anfang 2018 zu Investitionsentscheidungen im Verarbeitenden Gewerbe geführt, die nun zurückgenommen werden und den konjunkturellen Abschwung verschärfen könnten?
Der jüngste Bank Lending Survey der EZB hat gezeigt, dass diese Überlegungen auch bei Banken zunehmend eine Rolle spielen; denn die Risikoaversion der deutschen Finanzinstitute stieg im ersten Quartal 2019 an. Hieraus ergibt sich die Frage, ob das anhaltend niedrige Zinsumfeld zusammen mit der guten Konjunktur der letzten Jahre zu einer überzogenen Investitions- sowie Kreditdynamik im Verarbeitenden Gewerbe geführt hat? Haben sich einige deutsche Branchen übernommen?
Kreditwachstum im deutschen Verarbeitenden Gewerbe: Konjunkturenttäuschung erkennbar
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Seit Jahren wird darauf verwiesen, dass die Niedrigzinspolitik der EZB zu Fehlanreizen führt. Insbesondere steht eine überzogene Kreditaufnahme im Fokus, die zu Vermögensblasen und zu nicht nachhaltig rentablen Investitionen führt. Auf Euro-Ebene gibt es allerdings weiterhin keine Anzeichen dafür, dass die Zinspolitik zu einer übertriebenen Kreditnachfrage führt. Die Geldmenge in der Euro-Zone ist im April 2019 im Jahresvergleich um 4,7 % angestiegen. Das nominale BIP-Wachstum von 3,3 % im Jahr 2017 deutet weiterhin nicht auf eine außerordentlich expansive Geldpolitik hin, geschweige denn auf eine zu exzessive Geldmengenausweitung in der Euro-Zone. Trotz der anhaltend niedrigen Zinsen und einer deutlichen EZB-Bilanzausweitung ist die Liquiditätszufuhr in die Realwirtschaft weiterhin eher überschaubar. Dies liegt vor allem an der Kreditentwicklung in den südeuropäischen Staaten wie Italien und Spanien.
Die Kreditvergabe an das deutsche Verarbeitende Gewerbe zeigt durchaus eine starke Wachstumsdynamik, insbesondere seit 2017. Das Kreditwachstum im ersten Quartal 2019 lag bei über 6 %. Der Bestand von 144 Mrd. € liegt allerdings immer noch deutlich unter dem Niveau von Anfang 2009. Auch macht sich am aktuellen Rand eine Stabilisierung der Wachstumsdynamik bemerkbar. Diese sollte sich in den kommenden Monaten infolge des relativ schwachen BIP-Wachstums der letzten Quartale festigen. Damit ist kurzfristig trotz der anhaltend niedrigen Zinsen nur von einem moderateren Kreditwachstum auszugehen – sowohl aufgrund der nur verhaltenen Kreditnachfrage, aber auch aufgrund der steigenden Risikovorsorge auf der Angebotsseite.
Das relativ hohe Kreditwachstum (siehe Abb. 1) könnte angesichts der aktuellen Konjunkturentwicklung auf eine Übertreibung hindeuten: Während in schwachen Konjunkturphasen (2003 bis 2005, Finanzkrise 2009 und Euro-Krise 2012 bis 2013) eine übertriebene Zurückhaltung bei der Kreditvergabe zu beobachten war, ergab sich in Boomphasen wie 2007 oder 2017/18 eine gewisse Übertreibung. Konjunkturelle Erwartungen, die die Kreditentwicklung aktuell und in den letzten Quartalen prägten, haben sich aufgrund des schwachen BIP-Wachstumsverlauf nicht vollständig bestätigt. Empirisch betrachtet, hätte das Kreditwachstum aufgrund des Konjunkturverlaufs der letzten Quartale deutlich niedriger ausfallen müssen. Anders ausgedrückt: Es bedarf einer relativ schnellen Konjunkturerholung, damit sich das Kreditwachstum auf dem aktuellen Niveau halten kann bzw. nicht als Übertreibung herausstellen wird. Es ist in der Tat davon auszugehen, dass ein gewisser Optimismus die Kreditvergabe in den Jahren 2017/18 prägte, der sich nicht vollständig bewahrheitet hat. Von einem systematischen Risiko der Kreditvergabe und damit von einem höheren Ausfallrisiko im Verarbeitenden Gewerbe ist allerdings nur bei einer anhaltenden und weiterhin deutlichen Eintrübung der Wirtschaft auszugehen. In diesem Fall wäre mit einer spürbaren Korrektur der Kreditvergabe zu rechnen. Die IKB erwartet eine solche Entwicklung allerdings nicht.
Ausrüstungsinvestitionen: kein Wachstumstreiber und damit wenig Übertreibungspotenzial
Grundsätzlich deutet das Investitionsverhalten im Verarbeiteten Gewerbe in den letzten zwei Jahren auf keine Übertreibung hin. Denn es ist weiterhin das BIP-Wachstum, das die Investitionen beeinflusst und nicht umgekehrt. Unternehmen reagieren auf die zunehmende Auslastung ihrer Produktionskapazitäten, also auf gute Konjunktur; sie treiben die Wirtschaftsdynamik nicht aktiv voran – was infolge von übertriebenen Geschäftserwartungen zu klassischen, ausgeprägten Konjunkturzyklen führen würde. Empirische Analysen bestätigen, dass Unternehmen vielfach mit ihren Investitionsentscheidungen reagieren, als dass sie agieren, sodass Investitionen eher eine Bremse als ein Gaspedal für die Konjunkturentwicklung darstellen.
Aktuell ist kein überzogenes Investitionsverhalten zu erkennen, denn das Investitionsvolumen verläuft auch im ersten Quartal 2019 konsistent zum BIP-Wachstum. Auch in den Jahren 2017 und 2018 sind keine Überhitzungen zu erkennen. Zwar liegt aktuell das auf Basis des BIP-Wachstums zu erwartende Investitionswachstum leicht unter dem tatsächlichen Wert. Der Unterschied ist aber statistisch nicht bedeutend genug, um von einem hohen Risiko eines kurzfristigen Investitionseinbruchs auszugehen. Zudem scheint sich das Risiko im ersten Quartal 2019 vor allem aufgrund des wieder ansteigenden BIP-Wachstums reduziert zu haben.
Korrekturen beim Investitionsverhalten als Ursache für Konjunkturvolatilität sind nicht zu erwarten, ein systematisches Risiko durch Fehlinvestitionen ebenfalls nicht. Dies gilt auch für das Verarbeitende Gewerbe, dessen Investitionsdynamik die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Ausrüstungsinvestitionen dominiert. Da die Investitionsdynamik keine überzogenen Erwartungen spiegelt (Abb. 2), ist das Risiko aus der möglicherweise etwas überzogenen Kreditvergabe in Abb. 1 nicht über zu bewerten. Dies gilt allerdings nicht unbedingt für alle Branchen.
Überzogene Erwartungen in der Chemieindustrie und im Maschinen- und Fahrzeugbau bergen Risiken
Ein Anziehen des Kreditwachstums ist vor allem in der Chemieindustrie sowie im Maschinen- und Fahrzeugbau zu erkennen. In der Elektro- und Metallindustrie blieb das Kreditwachstum dagegen eher verhalten. Der Bestand an Langfristkrediten ist zwischen 2014 und dem ersten Quartal 2019 in der Chemieindustrie um 50 %, im Maschinen- und Automobilbau um 45 % angestiegen. Zum Vergleich: Langfristkredite an das gesamte Verarbeitende Gewerbe wurden in dieser Phase um weniger als 20 % ausgeweitet. Somit sind für andere Branchen wie Elektro- und Metallindustrie die Kredit- sowie Investitionsdynamik am Standort Deutschland einiges moderater ausgefallen. In diesen Branchen ist weder aus Sicht der Kreditvergabe noch aus Sicht der Investitionsdynamik von möglichen Übertreibungen und damit Korrekturen in den Jahren 2019/20 auszugehen. Für die Chemieindustrie und den Maschinen- und Fahrzeugbau dagegen sind die kräftigen Investitionsaktivitäten auch mit einem hohen und womöglich übertriebenen Kreditanstieg einhergegangen.
Für diese Branchen ist das Risiko des Korrekturpotenzials bezüglich ihrer Investitionen damit eher hoch. Für Kreditgeber und Investoren bergen diese Branchen somit nicht nur aufgrund ihrer starken Konjunkturabhängigkeit und möglicher struktureller Veränderungen ein erhöhtes Risiko, sondern auch infolge ihrer überzogenen Erwartungen in den letzten Jahren. Für andere Branchen bzw. für das gesamte Verarbeitenden Gewerbes gilt dies weniger.
Fazit: Eine Fortsetzung des aktuell starken Wachstums der Kreditvergabe an das deutsche Verarbeitende Gewerbe ist angesichts der aktuellen Konjunkturentwicklung wenig wahrscheinlich; und selbst bei einer sich beschleunigenden Konjunkturerholung deutet die Kreditvergabe auf überzogene Erwartungen hin. Dies gilt vor allem für Unternehmen der Chemieindustrie und insbesondere des Maschinen- und Fahrzeugbaus.
Die Ausrüstungsinvestitionen der gesamten deutschen Wirtschaft hingegen signalisieren keine übertriebenen Konjunkturerwartungen, sodass aktuell von keinem bedeutenden Rückgang auszugehen ist – und damit auch nicht von einem verstärkten konjunkturellen Abschwung.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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