[Kapitalmarkt-News vom 28. November 2019]
Hohe Unsicherheit über Erholungspotenzial der deutschen Industrie
Den aktuellen Abschwung der deutschen Industrie bezeichnen viele Analysten angesichts seines Ausmaßes und der Vielzahl möglicher Gründe als abnormal. Sonder- und Struktureffekte sowie Vergleiche mit der Krise 2008/09 schüren die Furcht vor einem anhaltenden und deutlich ausgeprägteren Abschwung, als dies „normalerweise“ zu erwarten wäre. Hinzu kommt die Sorge, die Geldpolitik sei ineffektiv und ausgereizt und könne einem wirtschaftlichen Einbruch relativ wenig entgegensetzen. Zudem verläuft der Rückgang der deutschen Industrieproduktion deutlich ausgeprägter als in anderen Industrieländern, wo die Produktion bereits wieder anzieht (siehe IKB-Kapitalmarkt-News 25. Oktober 2019). Diese Analyse sowie die präsentierten empirischen Ergebnisse zeigen jedoch, dass Untergangsstimmung nicht angebracht ist.
Aktuelle Konjunkturzahlen deuten noch immer auf keine Stabilisierung bzw. feste Bodenbildung der deutschen Industrie hin. Es fehlt insbesondere an überzeugenden positiven Impulsen, die eine Erholung im nächsten Jahr erwarten lassen könnten. Zwar mag sich die US-Wirtschaft im kommenden Jahr nicht unbedingt bedeutend abkühlen, aber Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft wird sie kaum liefern. Die Zahlen aus China bleiben ebenfalls durchwachsen. Positive Impulse könnten vielleicht aus Großbritannien kommen. Allerdings bleiben die Aussichten für die britische Wirtschaft auch mit einem weniger drastischen bzw. geregelten Brexit nach wie vor herausfordernd.
Insbesondere der deutliche Einbruch der Automobilindustrie gibt dem aktuellen Industriezyklus eine gewisse Abnormalität. Trotz des Verweises auf Sonder- und Struktureffekte verläuft die aktuelle Abschwungphase zwar etwas stärker, aber nicht bedeutend anders als in anderen Rezessionen. Ein Verweis auf die Finanzkrise 2008/09 ist angesichts des damaligen Industrieeinbruchs mit monatlichen Veränderungsraten von -20 % völlig unangebracht.
Wo steht die deutsche Wirtshaft wirklich, und kann von einer bevorstehenden Erholung ausgegangen werden? Gibt es bereits Daten, die die Beantwortung dieser Frage ohne Annahmen, Hoffnungen und Vermutungen erlauben? Der aussagekräftigste Frühindikator für die deutsche Wirtschaft – das ifo Geschäftsklima – zeigt noch keine Entwarnung, auch wenn die jüngsten Zahlen nicht mehr so schlecht ausfielen, wie teilweise erwartet worden war. Noch Ende des Jahres 2018 bestand die Hoffnung, dass sich die negativen Sondereffekte als kurzfristig erweisen würden und sich die Automobil- und damit die gesamte Industrie relativ schnell erholen. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Die globale Industrie geriet in einen Abschwung, und die Sondereffekte erwiesen sich als deutlich langlebiger als erwartet, was strukturelle Ursachen haben und das Wachstum langfristig belasten kann. Viele Branchenanalysten erwarten für 2020 trotz des deutlichen Einbruchs im Jahr 2019 einen eher flachen Produktionsverlauf für die deutsche Industrie. Ist solch eine Sicht gerechtfertigt?
Aktuell bleibt es daher schwierig, positive Impulse für die Weltkonjunktur und damit auch für die deutsche Wirtschaft für das Jahr 2020 zu erkennen. -Mit wirtschaftspolitischen Wachstumsimpulsen für Deutschland – wie einer deutlichen Senkung der Steuerlast – ist kaum zu rechnen (siehe IKB-Kapitalmarkt-News 4. November 2019). Daher stellt sich die Frage, wie stark ist die Eigendynamik der globalen und deutschen Konjunktur? Anders ausgedrückt: Ist für die Erwartung einer moderaten Erholung 2020 die Annahme von positiven Impulsen notwendig? Oder verfügt die globale sowie deutsche Industrie über ausreichend zyklische Eigendynamik für eine Belebung?
Wo steht die deutsche Industrie, und was ist für 2020 zu erwarten?
Um die Auswirkungen von strukturellen, zyklischen sowie einmaligen Sondereffekte besser einschätzen zu können, haben wir den Zusammenhang zwischen der globalen Industrieproduktion, derjenigen der USA, China, der Euro-Zone und Deutschland in Form eines VAR-Modells geschätzt. Das Modell berücksichtigt die Dynamik der Zeitreihen sowie ihre Beziehung zueinander. Diese Prognose zeigt die erwartete Entwicklung auf Grundlage der historischen Verläufe sowie Interdependenzen, positive oder negative Annahmen werden ausgeklammert. Somit kann diese Prognose als neutraler Referenzwert oder rein konjunkturgetriebener zyklischer Verlauf angesehen werden. Wir haben zwei Simulationen erstellt: Die erste zeigt den Verlauf der deutschen Industriekonjunktur ab Januar 2018 für die Jahre 2018, 2019 und 2020 (siehe Abb. 2).
Demnach hätte im Jahr 2018 das Produktionswachstum bei 3 % liegen sollen; erreicht wurden aber nur 1,2 %. Über die Hälfte des Produktionswachstums wurde also durch negative Impulse aufgebraucht. 2019 hätte sich dem Modell zu folge ein Produktionsrückgang in Höhe von -2 % ergeben. Da der eigentliche Rückgang bei -4 % liegen dürfte, kann die Hälfte des Rückgangs wieder auf negative lokale wie globale Impulse zurückgeführt werden. Im Jahr 2019 wäre also auch ohne Sondereffekte ein Produktionsrückgang zu erwarten gewesen. Für das Jahr 2020 zeigt die Konjunkturdynamik im Modell eine klare Erholung im Produktionswachstum. Hierfür bedarf es keiner zusätzlichen positiven Annahmen. Anders ausgedrückt: Die Erwartung einer Stagnation der Industrieproduktion ist keine neutrale Einschätzung, sondern spiegelt eine eher negative Erwartungshaltung. Doch wieviel Wachstum ist 2020 zu erwarten? Hierfür haben wir eine zweite Simulation durchgeführt, die im September 2019 startet (siehe Tabelle 1). Sie berücksichtigt die negativen Impulse aus diesem Jahr. Die Ergebnisse deuten auf ein Produktionswachstum von ca. 1 % im nächsten Jahr hin. Erwartungen einer stagnierenden Industrie im Jahr 2020 benötigen somit negative Impulse, eine Wachstumsprognose von über 1 % dementsprechend positive. Ansonsten ist eine konjunkturelle Stabilisierung in den kommenden Monaten bzw. spätestens im ersten Quartal 2020 zu erwarten.
Einschätzung
- Die deutsche Industrie steht kurz vor der Bodenbildung und einer Erholung im Verlauf des Jahres 2020.
- Um im nächsten Jahr ein Produktionswachstum in Deutschland von ca. 1 % zu erreichen, bedarf es keiner zusätzlichen positiven Impulse oder Annahmen. Die Befürchtung, dass positive Impulse benötigt werden, um dem aktuellen Produktionsrückgang entgegenzuwirken und eine Erholung im Jahr 2020 zu sichern, findet in der IKB-Simulation keine empirische Bestätigung.
- Negative Impulse, wie die Brexit-Verhandlungen, Handelskonflikte oder inländische Entwicklungen bei der Automobilindustrie, haben in den Jahren 2018 und 2019 zu Wachstumsverlusten bei der deutschen Industrieproduktion von rund 2 Prozentpunkten pro Jahr geführt.
Fazit:
Noch immer zeigen Frühindikatoren keine Wende der deutschen Industrieproduktion an, während Risiken und Unsicherheiten nach wie vor den Ausblick für das nächste Jahr trüben. Dabei ist der deutsche Produktionsrückgang von ca. 4 % in diesem Jahr etwa zur Hälfte auf Sondereffekte, nicht zuletzt in der Automobilindustrie zurückzuführen. Allein auf Basis des industriellen Konjunkturzyklus wäre mit einem Rückgang der deutschen Industrieproduktion um lediglich ca. 2 % zu rechnen gewesen.
Der konjunkturbedingte Verlauf der deutschen und globalen Industrieproduktion deutet denn auch auf eine Stabilisierung in den kommenden Monaten und auf eine moderate Erholung im Jahr 2020 hin, mit einem Wachstum in Deutschland von um die 1 %. Höhere Wachstumsprognosen benötigen zusätzlich positive Impulse. Stagnationsprognosen für 2020 hingegen sind nur bei deutlich negativen Einflüssen Impetus zu erwarten.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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