[Kapitalmarkt-News vom 2. September 2022]
Fazit: Die Bundesregierung will neue Entlastungen für die Bürger, um den realen Einkommensverlust der Haushalte zu begrenzen, der inzwischen bei jedem Einkauf zu spüren ist. Gleichzeitig steigen wegen der seit 2021 sehr hohen Inflation die Lohnforderungen kräftig. In Kombination mit der aktuellen konjunkturellen Eintrübung deutet dies auf baldige drastische Anstiege der Lohnstückkosten hin. Vor allem für das konjunktursensitive Verarbeitende Gewerbe, das mit absoluten Produktionsrückgängen rechnen muss, sind höhere Lohnstückkosten zu erwarten.
Daher ist nicht nur eine Entlastung unterer Einkommensschichten erforderlich, sondern auch eine Stärkung der Angebotsseite der Wirtschaft, damit das Wertschöpfungspotenzial am Industriestandort Deutschland erhalten bleibt. Die Kurzarbeiterregelung schafft hierfür Raum. Ein spürbarer Anstieg der Kurzarbeit in den kommenden Monaten wäre deshalb wünschenswert.
Lohndruck wird hoch bleiben
Die hohe Inflation sollte sich aufgrund ihres negativen Effektes auf das Realeinkommen zunehmend selbst ausbremsen. Der reale Einkommenseinbruch belastet den Konsum spürbar. Dies wird vor allem der Einzelhandel und damit der Güterkonsum spüren. Doch nicht nur die hohe Inflation dämpft die Kaufkraft. Während die Sparquote in den USA im zweiten Quartal gesunken ist, weil die Konsumenten trotz Kaufkraftverlusten in die Geschäfte strömen, sollte sie in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte eher hoch bleiben oder sogar steigen, weil die Konsumenten angesichts weiter steigender Energie- und Heizkosten Reserven bilden. Ohne Frage wird der private Konsum in Deutschland Ende dieses Jahres unter dem Niveau des Vorjahres liegen. Vor allem im dritten und vierten Quartal wird er einen spürbar negativen Beitrag zum BIP-Wachstum leisten. Die deutliche Konjunktureintrübung wird den Inflationsdruck umlenken – und zwar auf Gewinnmargen, Löhne, Rohstoffpreise und mittelfristig hoffentlich auf Produktivitätswachstum und Angebotsausweitung.
Die schwache Konjunktur wird den Margendruck bei den Unternehmen spürbar erhöhen und so den Spielraum für höhere Preise begrenzen. Doch trotz der konjunkturellen Abschwächung wird sich weiterer Lohndruck aufbauen. Die aktuellen Forderungen der IG-Metall nach Lohnsteigerungen um 8 % sind ein Beispiel. Da die Inflationsrate erst Anfang 2023 langsam sinken sollte und die privaten Haushalte mit hohen Nachzahlungen ihrer Strom- und Heizrechnungen rechnen müssen, werden Forderungen nach höheren Löhnen bzw. Sonderzahlungen auch im Jahr 2023 bestehen bleiben. Allein in den Jahren 2021 und 2022 ist die private Kaufkraft aufgrund der Inflation um voraussichtlich 10 % zurückgegangen. Zudem bedeutet eine steigende Zinslast eine weitere Reduzierung des frei verfügbaren Einkommens.
Während viele Unternehmen noch zu Jahresanfang in der Lage waren, zumindest teilweise Lohnerhöhungen oder Sonderzahlungen an ihre Kunden weiterzugeben, wird dies im restlichen Verlauf von 2022 und Anfang 2023 infolge der schwachen Konjunktur immer schwieriger werden. Eine konjunkturelle Eintrübung bzw. Rezession ist meistens mit Lohnzurückhaltung verbunden; damit ist aber angesichts des in Deutschland herrschenden Fachkräftemangels aktuell nicht zu rechnen. Der übliche Anpassungsprozess bei steigender Arbeitslosigkeit, der im Schatten nachlassender Produktion die Kosten senkt und Lohnforderungen dämpft, wird aktuell als eher unwahrscheinlich angesehen. Die meisten Volkswirte erwarten keinen Anstieg der Arbeitslosenquote. Die Hoffnung auf Lohnzurückhaltung scheint angesichts des Ausmaßes der Inflation sowie aktueller Lohnforderungen aber ebenfalls unwahrscheinlich.
Steigende Lohnstückkosten sind schon länger ein Thema für das Verarbeitende Gewerbe
Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes konnten ihre Gewinne trotz tendenzieller Produktionsrückgänge und spürbar ansteigender Rohstoffpreise im Jahr 2021 behaupten. Die Folge war ein nie dagewesener Anstieg der Erzeugerpreise. Mit einem Rückgang der realen Nachfrage wird sich die Weitergabe des Kostendrucks bzw. sogar eine Ausweitung der Gewinnmargen um einiges schwieriger erweisen, und dementsprechend wird sich der Gewinnausblick eintrüben. Die Rohstoffpreise sollten aber im Schatten der Konjunktureintrübung ebenfalls nachgeben. Bei industrienahen Rohstoffen ist bereits eine spürbare Entspannung zu erkennen. Doch damit wird sich der Margendruck nur teilweise legen. Denn die eigentliche Korrektur für die hohe Inflation steht noch aus: Tariflohnverhandlungen sind immer rückblickend. Es ist also die Inflation der Jahre 2021 und 2022, die im Fokus steht und nicht der zu erwartende Rückgang. Zu Anfang haben Unternehmen häufig versucht, den Lohndruck durch Einmalzahlungen zu steuern. Doch da es zu keiner kurzfristigen Deflation kommen wird, kommt es nur zu einer Verschiebung des Kostendrucks.
Bereits seit 2018 und nicht erst seit der Pandemie im Jahr 2020 ist die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes unter Druck – insbesondere in der und durch die Automobilindustrie. Selbst im Jahr 2022 lag das Produktionsniveau immer noch nennenswert unter dem von 2018. Spürbar steigende effektive Lohnkosten im Schatten eines schwachen Wachstums führen zu spürbar höheren Lohnstückkosten. In den Jahren 2018 bis 2021 lag der durchschnittliche Lohnstückkostenanstieg bei rund 10 % in der Automobilindustrie, bei rund 12 % im Maschinenbau und der Chemieindustrie sowie zwischen 7 und 8 % in den Metallbranchen – pro Jahr. Und dies, obwohl die Anzahl der Beschäftigten zumindest in den Pandemiejahren zurückgegangen ist. Die Beschäftigtenzahl ist in der Automobilindustrie seit 2019 um über 5 % zurückgegangen und im Maschinenbau um über 6 %. Bis auf die Chemieindustrie war in allen bedeutenden Branchen ein Beschäftigungsrückgang in den Pandemiejahren zu beobachten.
Im Jahr 2021 hingegen sind die Lohnstückkosten kaum gestiegen. Produktivitätssteigerungen sind sicherlich eine entscheidende Erklärungsgröße – da sich die Produktion vom Einbruch im Jahr 2020 erholen konnte. Hinzu kommt aber auch verstärkter Druck auf die Personalkosten. Diese sind im Jahr 2020 sogar spürbar gesunken und im Jahr 2021 kaum angestiegen. Stellenabbau, Lohnzurückhaltung infolge der Jobunsicherheit und eine niedrige Inflation in den vorangegangenen Jahren, aber auch die Subventionierung der Lohnkosten durch die Kurzarbeiterregelung haben dazu beigetragen. Wie ist nun der Ausblick? Hohe Lohnforderungen infolge der starken Inflation und Kaufkraftverluste, eine schwache lokale sowie globale Nachfrage und damit weiterhin gedämpftes Produktivitätswachstum sowie wenig Raum für eine weitere Euro-Abwertung belasten Gewinne und Margenausblick im weiteren Verlauf von 2022 und im Jahr 2023. Ohne Zweifel werden die Lohnstückkosten in den nächsten Quartalen wieder stärker steigen und die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland unter Druck setzen.
Eine Euro-Abwertung ist jedoch keine nachhaltige Lösung, um dem Lohnkostendruck zu begegnen, da anhaltende Wettbewerbsvorteile durch höhere Produktivität entstehen und nicht durch eine expansive Geldpolitik. Letztere würde nur die Inflation weiter antreiben. Da bereits eine erste Fed-Zinssenkung im Jahr 2023 erwartet wird, besteht jedoch die Gefahr, dass sich der Euro-Wechselkurs im kommenden Jahr erholt und somit im Jahr 2023 eher eine Euro-Aufwertung zu erwarten ist, was die internationale Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich belastet. Kurzfristig muss es darum gehen, die extreme Kostenentwicklung und damit Belastung der Gewinne in den Griff zu bekommen. Unternehmen, die aus Kostengründen Stellen streichen, Kapazitäten abbauen oder gar den Markt verlassen, werden das Potenzialwachstum in Deutschland kaum erhöhen. Deshalb bedarf es in diesem Umfeld einer Subventionierung der Lohnkosten – gerade, wenn die Lohnforderungen auf die Konjunktureintrübung nicht reagieren sollten. Denn von einer Lohnzurückhaltung ist angesichts der hohen Inflation nicht auszugehen.
Subventionierung von Lohnkosten genauso wichtig wie Kaufkraft der Konsumenten
Laut „reiner volkswirtschaftlicher Lehre“ belasten steigende Löhne und Lohnstückkosten die Nachfrage nach Arbeitskräften und führen so zu Arbeitslosigkeit. In einem Umfeld mit strukturellem Fachkräftemangel sind die Arbeitslosenquote oder die Anzahl der Erwerbstätigen jedoch von geringer Aussagekraft. Aktuell geht es nicht nur darum, Fachkräfte zu halten, sondern auch, eine Eskalation der Lohnstückkosten zu verhindern. Dies gilt umso mehr, als Kombination aus sinkender Nachfrage und steigenden Löhnen die Lohnstückkosten spürbar zunehmen lassen wird, während Produktivitätssteigerungen erst auf Sicht und bei einer konjunkturellen Erholung zu erwarten sind.
Der Staat sollte nicht nur Einkommen der Privathaushalte durch Arbeitslosengeld und die Kaufkraft durch weitere Entlastungspakete stützen, sondern vor allem die Lohnkosten der Unternehmen subventionieren. Die Angebotsseite der Wirtschaft und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland müssen im Fokus stehen und nicht nur die Konsumnachfrage – gerade angesichts der aktuell hohen Inflation. Dies gilt vor allem für das im internationalen Wettbewerb stehende Verarbeitende Gewerbe, das besonders konjunktursensitiv ist. In Anbetracht der Konjunktureintrübung ist deshalb eine Ausweitung des Kurzarbeitergelds oder anderer Maßnahmen zur kurzfristigen Subventionierung von Lohnkosten angebracht. Schließlich kann das Verarbeitende Gewerbe hohe Löhne in einem konjunkturellen Abschwung nicht überwälzen, bzw. sollte sie nicht verhindern – vor allem wenn es heißt Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern, insbesondere solche für hochqualifizierte Fachkräfte.
Ob die Transferzahlungen des Staates die Kaufkraft so weit stärken, dass der Lohndruck sinken wird, ist zweifelhaft. Zum einen treiben Entlastungspakete die Inflation nach oben. Zum anderen beruhen Tarifforderungen auf der lokalen bzw. historischen Inflationsentwicklung. Es gilt deshalb, Lohnkosten zu subventionieren, um mittelfristig nachhaltig höhere Löhne und eine hohe Wertschöpfung am Standort Deutschland sicherzustellen. Im Juni 2022 verlängerte das Kabinett die Zugangserleichterungen für den Bezug von Kurzarbeitergeld für weitere drei Monate bis zum 30. September 2022. Eine weitere Verlängerung bis ins Jahr 2023 wäre deshalb wünschenswert.
Die Corona-Krise hat zu einer Verschärfung des Fachkräftemangels geführt – durch Abwanderung, aber auch durch fehlendes Vorausschauen der Unternehmen aufgrund der enormen Verunsicherung. Dies gilt auch für viele Dienstleistungsbranchen. So werden höhere Löhne benötigt, um Anreize für die Mobilität von Arbeitskräften aus dem EU-Ausland aber auch zwischen Branchen zu schaffen. Für das global agierende Verarbeitende Gewerbe sind höhere Lohnkosten in einem konjunkturellen Abschwung nur schwer verkraftbar. Ohne eine Subventionierung der Löhne wäre deshalb in der aktuellen makroökonomischen Konstellation zunehmend auch eine Standortentscheidung der Unternehmen zu erwarten, was das Wertschöpfungspotenzial der Industrie am Standort Deutschland nachhaltig belasten könnte. Sicherlich kann und darf Kurzarbeit bzw. die kurzfristige Subventionierung von Lohnkosten notwendige strukturelle Anpassungen nicht verhindern. Der Fachkräftemangel und die Folgen der Corona-Pandemie bedeuten grundsätzlich steigende reale Löhne, was angesichts der Inflation seit 2021 und einer schwachen Konjunktur zu enormen Anstiegen der Lohnstückkosten führen wird. Notwendige Gegenmaßnahmen wären Investitionen – also mehr Kapital je Arbeitnehmer – und damit eine Produktivitätssteigerung, die jedoch erst bei einer Konjunkturaufhellung realisierbar wäre.
Eine Kurzfassung dieser Kapitalmarkt-News erschien am 1. September 2022 als Gastbeitrag auf wiwo.de, Lohnpolitik: Die Regierung muss die Angebotsseite der Wirtschaft stärken (wiwo.de)
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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