Italien: Regierung der fehlenden Verantwortung
[Kapitalmarkt-News vom 19. Oktober 2018]
Reformmangel in Italien trotz akutem Handlungsbedarf
Deutschland wurde 2003 von Prof. Sinn als „kranker Mann Europas“ bezeichnet. Verglichen mit der damaligen Beschreibung der Wirtschaft ist Deutschland heute kaum wiederzuerkennen. Gemäß dem jüngsten „Globalen Competitiveness-Index“ liegt das Land im internationalen Vergleich auf Platz 3 und was Innovationen angeht sogar auf Platz 1. Der Weg vom kranken Mann zur innovationsstärksten Wirtschaft zeigt, dass schwaches Wachstum und steigende Schulden- wie Arbeitslosenquote alles andere als ein hinnehmbarer Zustand sein muss – wenn man sich dem Problem stellt. Der Grund für die Veränderung ist in großem Maße in der politischen Antwort auf die damalige Lage zu finden. Die Agenda 2010 führte umfassende Arbeitsmarkt- und Sozialreformen ein, zu denen auch die Hartz-Gesetze zählen. Verglichen mit der Reformträgheit vieler Regierungen ein durchaus bemerkenswerter Schritt. Allerdings waren es nicht nur die Argumente über die Notwendigkeit von Veränderungen, sondern die konkrete konjunkturelle Lage, die die Notwendigkeit eines Neuanfangs forcierten.
In Italien gibt es schon länger eine Kombination von Umständen, die nach ähnlichen Reformen verlangt. Und seit der Finanzkrise wird die Bedeutung von preislicher Wettbewerbsfähigkeit und die Notwendigkeit von greifenden Arbeitsmarktreformen von der EU/EZB immer wieder betont. Trotz der anhaltend schwachen Wirtschafts- und Finanzlage scheint in Italien immer noch nicht die Notwendigkeit zu solch einem Handeln vorhanden zu sein. Dementsprechend hat sich wenig getan: Im Zeitraum 2014 bis 2016 lag die durchschnittliche jährliche Inflationsrate in Italien bei 0,1 %. Die Löhne im Privatsektor waren im gleichen Zeitraum jedoch um fast 1 % gestiegen. Lediglich 2017 lag deren jährliches Wachstum bei ca. 0,5 % und damit unter der Teuerungsrate von 1,3 %. Im Juni 2018 sind sie hingegen um fast 2 % zum Vorjahr gestiegen. Das durchschnittliche jährliche Produktivitätswachstum seit Anfang 2012 betrug hingegen nur 0,15 %. Doch auch die Löhne im öffentlichen Sektor steigen seit dem letzten Quartal 2017 erneut an: Im Juni 2018 lagen diese 4,7 % höher als 12 Monate zuvor.
All die Jahre des schwachen Wachstums haben zu keiner effektiven Handlungsnotwendigkeit auf Seiten der italienischen Regierung geführt. Hier mag die EZB-Zinspolitik und die damit verbundene Senkung der Zinslast eine Rolle spielen, da sie die Schuldentragfähigkeit des italienischen Staates durch niedrige effektive Zinsen und nicht durch höheres Wachstum sicherstellt. Dies wird aus Sicht der Finanzstabilität in der Euro-Zone jedoch als nötig angesehen. Auch bleibt anzuzweifeln, ob steigende Zinsen die italienische Regierung zu verstärktem Handeln genötigt hätten, da die Euro- bzw. Italienkrise eher als Folge von Kapitalmarktverwerfungen und nicht mangelhafter Fiskalpolitik gesehen wird. Es mag auch an der Sichtweise liegen, dass die Wettbewerbsprobleme ihren Grund in der Euro-Einführung haben und dies somit auch ein Euro-Zone-Thema ist.
Es liegt nicht an der Euro-Einführung
Der Euro hat Italiens internationaler Wettbewerbsfähigkeit nicht geschadet. Vor dem Beitritt zur monetären Union hatten abrupte Abwertungen der Lira für die Herstellung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit Italiens gesorgt. Dies war allerdings immer nur von kurzer Dauer, da eine hohe Inflation zu einer preisbereinigten Aufwertung führte. Das Ergebnis war eine hohe Volatilität des realen effektiven Wechselkurses und damit der preislichen Wettbewerbsfähigkeit Italiens. Seit der Euro-Einführung ist eine relative Stabilität rund um den historischen Durchschnitt zu erkennen, wie Abb. 2 zeigt; Phasen von einer deutlichen realen Ab- wie Aufwertung sind nicht zu erkennen. Der Euro hat somit wenig mit dem anhaltend schwachen Wachstum Italiens zu tun. Im Gegenteil – die reduzierte Volatilität des realen Wechselkurs hat für eine gewisse Stabilität der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit Italiens gesorgt, was nicht gegen, sondern für Investitionen sprechen sollte. Argumente, dass Italien wegen des Euro fundamentale Wettbewerbsverluste hinnehmen musste, sind auf Grundlage von Abb. 2 nicht nachvollziehbar.
Nicht die Abwertung des Geldes, sondern eine höhere Produktivität und dadurch sinkende Lohnkosten sind gefragt, wenn es darum geht, nachhaltige preisliche Wettbewerbsvorteile sicherzustellen. Wettbewerbsfähigkeit wird langfristig vor allem durch eine höhere Produktivität und damit Innovationen sichergestellt. Basierend auf dem „Global Competitiveness Report“ von 2018 belegt Italien, was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt: immerhin Platz 31. Insbesondere in Sachen menschliches Kapital und Innovation kann Italien durchaus punkten. Woran liegt es also, dass das Land nicht vorankommt? Italiens Wachstum liegt deutlich innerhalb seines möglichen Potenzials, weil eine rigide Angebotsseite verhindert, dass Ressourcen wie Innovation und Bildung effizient angewandt bzw. zur vollen Entfaltung kommen können.
Wie die Agenda 2010 und ihre Folgen gezeigt haben, so liegt eine angemessene Lösung für fehlende Wachstumsdynamik in der Reform der Angebotsseite, die Lohnstückkosten senkt und Anreize für einen Anstieg im Innovationspotenzial einer Wirtschaft sicherstellt. Doch zuerst muss Italien anerkennen, dass es nicht der Euro oder andere externe Aspekte sind, die für das schwache strukturelle Wachstum verantwortlich sind, sondern das Land selbst. Es ist eine seit Jahrzehnten fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, die Italien in ihren Reformanstrengungen hindert. Hier geht es nicht unbedingt darum, dass die Politik kurzfristige Erfolge zeigen möchte, die sie nur auf die Nachfrageseite der Wirtschaft durch eine expansive Fiskalpolitik realisieren kann. Denn die Agenda 2010 hat gezeigt, dass weitreichende Reformen durchaus relativ schnell sichtbare Erfolge liefern können. Es ist eher die fehlende Bereitschaft, sich die Probleme Italiens zu eigen zu machen und nicht den Schuldigen außerhalb und insbesondere in der EU oder den Finanzmärkten zu sehen, was seriöse Reformanstrengungen verhindert.
Budgetprojektionen der italienischen Regierung – Märchenstunde am späten Abend …
Ausgabenkürzungen in Italien sind in den letzten Jahren vor allem auf fallende öffentliche Investitionen und Einsparungen bei den Zinsausgaben zurückzuführen. Die öffentlichen Bruttoinvestitionen fielen im Jahr 2017 auf durchschnittliche 2,0 % des BIP (von 3,4 % 2009). Sie sind damit im Vergleich zu 2009 um ein Drittel gesunken. So hat Italien gespart, wo es nicht wehtut. Ein Zeugnis für die Bereitschaft, Staatsausgaben nachhaltig zu senken, ist dies allerdings nicht – eher dafür, dass das Potenzialwachstum durch sinkende Investitionen negativ beeinflusst wurde.
Italien bleibt weiterhin den Beweis schuldig, dass die Regierung sowie die Gesellschaft bereit sind, Kürzungen bei Ausgaben und Leistungen für das Erreichen von europäischen und vertraglich zugestimmten Zielen hinzunehmen (siehe auch IKB-Kapitalmarkt-News Kapitalmarktfähigkeit: auch für Italien und Portugal unrealistisch?). Zwar hatte das italienische Finanzministerium im Vorfeld ein Defizitziel von unter 2 % des BIP in Aussicht gestellt; die neue italienische Regierung kündigte jedoch an, dass das Zieldefizit in den drei kommenden Jahren bei 2,4 % des BIP liegen soll. Anschließend wurden die Ziele für das Budget leicht revidiert: Die Klausel bezüglich der automatischen Erhöhung der Mehrwertsteuer wird lediglich für 2019 außer Kraft gesetzt, was in den nachkommenden Jahren zu einem leichten Rückgang des Budgetdefizites führen soll. So soll das Budgetdefizit im nächsten Jahr weiterhin 2,4 % des BIP betragen; in den Jahren 2020 und 2021 bei 2,1 % respektive1,8 %. Somit liegt die kumulierte Abweichung zu den mit der Europäischen Kommission abgestimmten Budgetzielen bei 5,7 % des BIP. Von einer Ablehnung dieses Vorschlags durch die EU ist auszugehen. Denn die aktuellen italienischen Budgetpläne widersprechen klar einer erforderlichen Annäherung an die von der Europäischen Kommission vorgegebenen mittelfristigen Ziele, die einen strukturell ausgeglichenen Haushalt zum Ziel setzen. In welchem Maße dies die italienische Regierung zu einer Kursänderung bewegen könnte, ist allerdings weniger eindeutig.
Zu den wesentlichen geplanten Maßnahmen der Regierung gehören die Senkung der Körperschaftsteuer für kleine und mittlere Unternehmen KMUs, die Einführung eines Grundeinkommens, eine bessere Altersversorgung, ein geringeres Renteneintrittsalter, ein Anstieg der öffentlichen Investitionen sowie keine Anhebung der Mehrwertsteuer im Jahr 2019. Potenziell positive Konjunktureffekte durch die höheren Staatsausgaben dürften aber bestenfalls sehr kurzfristiger Natur sein, da der primäre Fokus auf dem privaten Konsum liegt. Zudem bestätigen akademische Studien, dass der Staatsausgabenmultiplikator in den Ländern mit einer hohen Verschuldung deutlich geringer ausfällt. In diesem Kontext bleibt es weiterhin unklar, wie der Anstieg des strukturellen Budgetdefizites im nächsten Jahr bei lediglich 0,7 % des BIP bleiben soll. Was die Ausgaben angeht, scheint das Budget also ziemlich „auf Kante genäht“ zu sein. Zudem stehen die Annahmen bezüglich der Mehreinnahmen auf wackligen Füßen: So soll die Ausweitung des Budgetdefizites auf über 3 % des BIP auch dank der nicht wiederkehrenden Maßnahmen, wie zum Beispiel Steueramnestie, vermieden werden.
Italien hat seit der Euro-Einführung noch nie ernsthaft die Planungsparameter des Staatshaushaltssaldo eingehalten. Früher hat man zumindest in der Planung noch Wert darauf gelegt, den EU Richtlinien gerecht zu werden. Doch selbst dies scheint nicht mehr der Fall zu sein. Basierend auf geplante und eingetretene Zahlen, wie in Abb. 3 angedeutet, ist dies kein gutes Zeichen für die Entwicklung des italienischen Staatshaushalts. Es scheint keine Hemmschwelle mehr zu geben, die Richtlinien der EU zu brechen. Bleibt die Regierung der „Tradition des fiskalischen Unterschießens“ treu, so ist für 2020 und 2021 von einem tatsächlichen Budgetsaldo von bis zu -5 % des BIP auszugehen, was die Schuldenquote nach oben treiben würde. Die mittel- bis langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen muss wohl zunehmend in Frage gestellt werden.
… wird wohl kaum durch die Rating-Agenturen unterbrochen werden
Italien ist noch von allen vier wichtigen Ratingagenturen zwei Bonitätsstufen über der Grenze zum „Ramschniveau“ eingestuft. Standard & Poor’s (S&P) und DBRS haben ihren stabilen Ausblick für das Land beibehalten. Am 31. August 2018 hat Fitch die Kreditwürdigkeit Italiens auf „BBB“-Niveau bestätigt, den Ausblick für das Land jedoch auf „negativ“ gesetzt. Moody’s hatte einen identischen Schritt bereits im Mai vorgenommen. Ende Oktober werden S&P und Moody’s ihre Neueinschätzung zu Italien veröffentlichen. Im Kontext der Rückabwicklung der Rentenreform und ausbleibender Strukturreformen gilt eine bevorstehende Herabsenkung als sicher – und anhand der Wirtschafts- wie auch Fiskalpolitik der Regierung durchaus angebracht. Tragischer wäre es, wenn es durch die Herabstufung und steigender Risikoprämien zu keinen korrigierenden Maßnahmen durch die italienische Regierung kommen würde, sondern sich eher der Druck auf die Euro-Zone bzw. EZB erhöhen würde. Gelten die Erfahrungen und Reaktionen infolge der Euro-Krise als Maßstab, ist hiervon allerdings auszugehen.
Die effektive Verzinsung öffentlicher Schulden liegt in Italien trotz der EZB-Geldpolitik und des Ankaufprogramms über dem nominalen Wachstum. Somit benötigt das Land anhaltende Primärbilanzüberschüsse, damit die Schuldenquote stabil bleibt oder fällt. Steigen die Zinsen jedoch infolge von Herabstufungen und fehlender fiskalischer Glaubwürdigkeit, wird es immer schwieriger, eine stabile Schuldenquote sicherzustellen. Denn ohne Reformen ist jegliche Annahme eines ansteigenden BIP-Wachstumspfades, um der Zinslast in der Berechnung der Schuldentragfähigkeit gerecht zu werden, unangebracht. Aktuell scheint Italien alles zu tun, um nicht schuldentragfähig zu sein: Die Glaubwürdigkeit sinkt und die Renditen steigen; eine effektive Umsetzung von Reformen ist nicht existent und die Defizite steigen – und all dies bei einer Schuldenquote, die 2017 ein Niveau von 131,8 % des BIP erreichte. Es gibt in der Literatur die These einer kritischen Schuldenquote, ab der der Staat keine Anstrengungen mehr tätigt, sie in den Griff zu bekommen. Anhand des Verhaltens der italienischen Regierung scheint dieses Niveau in Italien zunehmend erreicht zu sein. Dies gilt für die Regierung, aber auch für die Bevölkerung. Die Wählerzustimmung für die rechtspopulistische Lega ist laut der letzten Umfragen deutlich gestiegen. So würde die Mehrheit der italienischen Wähler heute EU-kritische Parteien wählen.
Fazit
Eine deutliche Abweichung der tatsächlichen Budgetsalden von den vorausgehenden Projektionen hat in Italien Tradition. Während früher zumindest der Anschein gewahrt wurde, dass man die EU-Ziele anerkennt, ist dies trotz ambitionierter Annahmen aktuell nicht mehr der Fall. Doch in welchem Maße eine Ablehnung der Planungszahlen durch die EU die bevorstehende Herabstufung der italienischen Bonität oder weiter ausweitende Risikoprämien eine Verhaltensänderung der italienischen Regierung induzieren werden, bleibt fraglich. Denn Jahre des schwachen Wachstums haben zu keinen grundlegenden Reformen der italienischen Wettbewerbsfähigkeit geführt, und ebenso wird die Verantwortung der Finanzkrise immer noch nicht bei einer mangelhaften Finanzpolitik und fehlender Glaubwürdigkeit gesehen. Aus diesem Grund wird Italien ein Thema für die EZB, den Euro-Devisenkurs und die europäische Konjunktur bleiben – und dies nicht im positiven Sinne.
Literatur: Global Competitiveness Report 2018: http://www3.weforum.org/docs/GCR2018/05FullReport/TheGlobalCompetitivenessReport2018.pdf
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Zudem lehrt der promovierte Volkswirtschaftler an der Nelson Mandela University in Südafrika. Zuvor arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen.
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