[Kapitalmarkt-News vom 16. August 2023]
Fazit: Kapital bewegt sich dahin, wo es die höchste Rendite erwirtschaftet. Bei einem eskalierenden Fachkräftemangel und einem damit einhergehenden sinkenden Wachstumspotenzial in Deutschland wird eine höhere Rendite zunehmend im Ausland zu finden sein.
Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, ist dabei nur ein Teilaspekt der Lösung. Nötig sind vor allem klare Anreize, die Arbeitszeit zu erhöhen. Und es bedarf einer fokussierten Wirtschaftspolitik, die eine Verbesserung des Renditepotenzials am Standort Deutschland zum Ziel hat. Nur so ist eine Ausweitung der Investitionsquote möglich, die wiederum Produktivität und Wachstumspotenzial erhöht. Nicht allein Arbeit, auch Investitionen müssen sich wieder lohnen.
Die Diskussion über den Fachkräftemangel aufgrund der demografischen Entwicklung nimmt Fahrt auf. In den nächsten 15 Jahren werden die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge 1957 bis 1969 in den Ruhestand gehen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 % der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen. Nachrückende jüngere Altersgruppen werden die Älteren zahlenmäßig nicht ersetzen können, sodass je nach Prognose 4 bis 7 Mio. Erwerbspersonen fehlen.
Bislang ist die Anzahl der Erwerbstätigen ungebrochen angestiegen und hat aktuell ein Niveau von 45,8 Mio. erreicht. Dazu hat die wachsende Teilnahme von Frauen am Arbeitsleben entscheidend beigetragen. So ist die Frauenerwerbstätigenquote laut Eurostat von 68 % im Jahr 2005 auf fast 77 % im Jahr 2022 gestiegen. Deutschland hat insgesamt eine deutlich höhere Erwerbstätigenquote als viele andere Industriestaaten. Was die durchschnittlichen Jahresarbeitsstunden angeht, liegt Deutschland laut OECD jedoch auf dem letzten Platz. Viele Menschen stehen in Arbeit, aber zu wenig in Vollzeit, unter anderem, weil Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten. Ziel muss es also sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die nicht nur dem Rückgang der Erwerbstätigenzahl entgegenwirken, sondern die vor allem die Arbeitsstunden und die Produktivität der Erwerbstätigen erhöhen.
Auch der Staat sieht in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen mittlerweile Handlungsbedarf. Viele Unternehmen haben jedoch schon längst auf den Fachkräftemangel reagiert. Denn die Folgen – eskalierende Lohnkosten und begrenztes Wachstumspotenzial – sind für sie bekannte Herausforderungen. Dies gilt vor allem für das Verarbeitende Gewerbe, das schon länger seine Wertschöpfung ins Ausland verlagert, um komparative Kostenvorteile zu nutzen. Sor sorgt die Industrie für eine höhere Spezialisierung und damit auch Produktivität der Arbeitskräfte am Standort Deutschland.
Die zunehmende Globalisierung der deutschen Wertschöpfungsketten und Unternehmen hat also nicht nur mit Kosteneinsparungen zu tun, sondern vermehrt auch mit der Notwendigkeit, mehr und mehr globale Produktionsfaktoren zu nutzen, um Lieferketten robuster zu machen und Wachstum zu sichern. Mit einem deutschen Potenzialwirtschaftswachstum, das nur etwa ein Drittel des globalen Durchschnitts ausmacht und in der Tendenz weiter sinken sollte, ist diese Verlagerung notwendig, um globale Marktanteile zu behaupten.
Für ein global agierendes Unternehmen ist demnach die Verlagerung von Investitionen und Wertschöpfung ins Ausland eine wichtige Option, dem begrenzten deutschen Wachstum und damit einem möglichen Wettbewerbsverlust entgegenzuwirken. In diesem Fall nutzen deutsche Unternehmen globale Produktionsfaktoren und erwirtschaften eine Kapitalrendite mit Hilfe fremder Arbeitskräfte. Fließt diese Rendite zurück, profitiert auch Deutschland davon. Im Jahr 2021 sind immerhin rund 50 % der Gewinne aus deutschen Direktinvestitionen in China nach Deutschland zurückgeflossen. Auch erlaubt die Verlagerung eine zunehmende lokale Spezialisierung und damit höhere Wertschöpfung pro Arbeitnehmer in Deutschland. Diese Entwicklung ist schon seit Jahren zu erkennen. So ist das Beschäftigungswachstum des verarbeitenden Gewerbes im Ausland deutlich stärker als im Inland. Die Produktionssteigerung deutscher Hersteller ist somit vor allem auf die Kapazitätsausweitung und damit Nutzung ausländischer Fachkräfte zurückzuführen. Schon seit Jahren werden zum Beispiel deutlich mehr PKW deutscher Hersteller im Ausland als in Deutschland produziert.
Die Abwanderung von Wertschöpfung wird grundsätzlich eher kritisch gesehen. Schließlich werden Arbeitsplätze und Wertschöpfung ins Ausland verlagert, was mit Arbeitslosigkeit im kapital-exportierenden Land einher gehen kann. Doch angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland sollte dieses Thema von geringer Relevanz sein. Auch ist eine geringere lokale Wertschöpfung bei einer rückläufigen Bevölkerung nicht zwangsläufig verbunden mit einem sinkenden pro-Kopf-Lebensstandard. Dennoch bedeutet die Verlagerung von Wertschöpfung ins Ausland eine reduzierte Fähigkeit der Gesamtwirtschaft, soziale Systeme, insbesondere das Rentensystem, nachhaltig aufrecht zu halten. Die Lösung liegt jedoch nicht in der Zurückführung von Wertschöpfung durch Deglobalisierung, sondern in der Steigerung des deutschen Wachstumspotenzials.
So wird vor allem eine höhere Investitionsbereitschaft am Standort Deutschland benötigt, um Kapital und damit Wertschöpfung je Arbeitnehmer zu steigern. Dies gilt gerade für eine Volkswirtschaft, deren Wertschöpfung zunehmend auf Automatisierungen und Forschung beruht. Es gilt aber auch für Dienstleistungen, bei denen Digitalisierung neue Wege der Wertschöpfung mit immer geringeren Arbeitsinput ermöglicht. Um die lokale Wertschöpfung sicherzustellen, benötigt Deutschland nicht nur eine geordnete Einwanderungspolitik, effiziente Bildungssysteme und eine bessere Betreuungsinfrastruktur, sondern auch eine Investitions- und Digitalisierungsinitiative. Hierbei wird auch der Einsatz von KI eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Ohne die Bedeutung der Klimaziele und die notwendige Reduktion von CO2 in Frage zu stellen, müssen die Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschlands und damit die erwirtschaftete Rendite aus Investitionen im wirtschaftspolitischen Fokus stehen. In den letzten Jahren scheint es oftmals naheliegender gewesen zu sein, lokales Kapital von Deutschland ins Ausland zu verlagern, als im Inland zu investieren.
Ob das verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz allein genügend Impulse liefern kann, ist zweifelhaft. Entscheidend ist, trotz des hohen Investitionsbedarfs eine im internationalen Vergleich ansteigende Rendite auf investiertes Kapital sicherzustellen. Dies benötigt einiges mehr als selektive Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitskräftezahl. Erforderlich ist vor allem ein zunehmendes Gewinnpotenzial am Standort Deutschland. Somit wären die Senkung der Gewinnsteuer und eine grundsätzliche Planungssicherheit bei den Energiekosten ein guter Anfang.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie Fachkräfte aus dem In- und Ausland animiert werden können, in den deutschen Arbeitsmarkt einzutreten bzw. ihre Arbeitsstunden zu erhöhen. Der Arbeitsmarkt unterscheidet sich stark vom Markt für Güter. Steigen die Löhne, mag sich das negativ auf das Angebot auswirken. Fachkräfte reduzieren angesichts eines hohen Einkommens ihre Arbeitszeit, weil sich die Notwendigkeit reduziert hat zu arbeiten, um einen gewissen Lebensstandard zu erhalten. Diskussionen um die 4-Tagewoche zeigen: Der Sättigungsgrad vieler Berufstätiger bzgl. ihres Einkommens ist erreicht. Ein hoher Wohlstand, soziale Sicherungssysteme, aber auch eine progressive Einkommensteuer sind klare Hemmnisse, die Zahl der Arbeitsstunden zu erhöhen.
Ein Mindestlohn ist vor diesem Hintergrund eher kontraproduktiv. Zwar wird oft argumentiert, dieser sorge in Folge eines höheren Einkommens für Arbeitsanreize. Allerdings reduziert ein hoher Mindestlohn die Notwendigkeit, die Stundenzahl zu erhöhen, um einen gewissen Lebensstandard zu halten. Das Problem fehlender Arbeitsstunden wird also eher noch verstärkt. Der Vorschlag, die Einkommensteuer für Rentner zu senken und so die Arbeitsstunden bzw. Erwerbsquote zu steigern, wird ebenfalls davon abhängen, wie stark der Bedarf nach mehr Einkommen zur Sicherstellung des Lebensstandards im Alter sein wird. Die Gefahr einer zunehmenden Altersarmut könnte in Kombination mit keiner oder einer niedrigen Einkommensteuer die Erwerbsquote bzw. Arbeitsstunden von Rentnern anheben. Notwendig scheint allerdings auch zu sein, die kostenfreie Mitversicherung der Partner in der gesetzlichen Krankenkasse abzuschaffen. Denn dies käme einer spürbaren Senkung des verfügbaren Einkommens gleich und würde zu mehr Arbeit animieren.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
Hinterlasse einen Kommentar