[Kapitalmarkt-News vom 12. November 2020]

Fazit: Die Aktienmärkte reagieren auf die Nachricht eines voraussichtlich bald verfügbaren Impfstoffs nahezu euphorisch. Die aktuelle Realität ist hingegen vom zweiten Lockdown bestimmt, der einen erneuten BIP-Rückgang im vierten Quartal immer wahrscheinlicher macht. Die zweite Welle der Pandemie triff nicht nur direkt betroffene Dienstleistungsbranchen, sondern auch konjunktursensitive Branchen des Verarbeitenden Gewerbes.

In der Industrie stieg das Insolvenzrisiko bereits im Jahr 2019 an, und es hat in diesem Jahr weiter zugenommen. Das höhere Ausfallrisiko kann zwar durch eine stabile Konjunktur im Jahr 2021 reduziert, aber nicht vollkommen eliminiert werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es nicht zu einem erneuten Lockdown im nächsten Jahr kommt. Somit sollte die Aussicht auf einen Impfstoff weniger als positive Überraschung gesehen werden, sondern vielmehr als notwendige Voraussetzung für die erwartete Konjunkturentwicklung – und damit für eine Reduzierung des Ausfallrisikos im Verarbeitenden Gewerbe.

Impfstoff gibt Hoffnung auf stabile Erholung im Jahr 2021

Der zweite Lockdown belastet zunehmend die aktuelle wirtschaftliche Dynamik in Europa. Gleichzeitig hellt sich der Ausblick auf, weil voraussichtlich bald ein wirksamer Impfstoff verfügbar ist, der zukünftige Lockdown-Maßnahmen unwahrscheinlicher macht. Die meisten Prognosen beruhen bereits auf solch einem Erfolg; für das Jahr 2021 werden im Allgemeinen keine weiteren spürbaren Lockdown-Maßnahmen erwartet. Stattdessen wird von einer graduellen Erholung ausgegangen, die für anhaltend positives Quartalswachstum sorgen wird. Wie schnell sich ein erfolgreicher Impfstoff positiv auf die Wirtschaft auswirken wird, bleibt jedoch abzuwarten. Zweifellos werden der erste und der aktuelle Lockdown noch lange die Verschuldung vieler Unternehmen prägen.

Ohne einen wirksamen Impfstoff dürften die aktuellen Wachstumsprognosen für das Jahr 2021 zu optimistisch ausfallen, Ähnliches gilt für das Insolvenzrisiko. Denn der erneute Lockdown hat die Hoffnung, die deutsche Wirtschaft könnte bereits im Jahr 2021 ihr Vorkrisenniveau erreichen, deutlich gedämpft und damit für einen bedeutenden Anstieg des systematischen Ausfallrisiko gesorgt. Dies gilt nicht nur für direkt betroffene Dienstleistungsbranchen wie die Gastronomie, sondern auch für konjunktursensitive Branchen des Verarbeitenden Gewerbes. Hierzu zählen Maschinenbau, Automotive, sowie Metall-, Elektro- und Chemieindustrie. Ein Impfstoff würde den Ausblick gerade für diese Branchen aufhellen, da deren Entwicklung weniger volatil bzw. mit deutlich weniger Risiko behaftet wäre. Es stellt sich die Frage, welche Insolvenzquotenhöhe bereits aus dem wirtschaftlichen Rückgang im Jahr 2020 zu erwarten ist, und wie wichtig eine schnelle und nachhaltige Erholung im Jahr 2021 sein wird, um den Anstieg der Insolvenzzahlen entgegenzuwirken.

Wieviel Insolvenzdruck hat sich bereits in verschiedenen Branchen aufgebaut?

Im Jahr 2019 ist die Produktion des Verarbeitendes Gewerbes um 4,1 % gesunken. Aber bereits seit Mitte 2018 war sie in der Tendenz abwärtsgerichtet. Da die Veränderung der Produktion ein entscheidender Bestimmungsfaktor für die jährliche Insolvenzquote konjunktursensitiver Branchen darstellt, ergab sich bereits im Jahr 2019 ein aufbauender fundamentaler Insolvenzdruck; Modellschätzungen signalisieren denn auch eine ansteigende Insolvenzrate im Jahr 2019. Die Hoffnung damals wie heute richtet sich auf die Wachstumsrate des jeweils kommenden Jahres. So ist aktuell die Erwartung hoch, mit der Erholung im Jahr 2021 sinke die fundamentale Insolvenzquote wieder – die vor allem im Jahr 2020 deutlich angestiegen ist. Da für Unternehmensausfälle nicht nur die Tiefe, sondern vor allem die Dauer einer Rezession entscheidend ist, ist eine überzeugende Erholung im Jahr 2021 von enormer Bedeutung, um die sich aufbauende Insolvenzgefahr der Vorjahre zu mildern.

Hier ist allerdings die deutliche Erholung des Verarbeitenden Gewerbes in den letzten Monaten zu erwähnen. Die Produktion ist seit ihrem Tiefpunkt im April bis September um 29 % angestiegen und hat bereits 91 % ihres Vorkrisenniveaus im Januar 2020 erreicht; im April lag sie 30 % unterhalb des Januar-Wertes. Die schnelle Erholung setzte bereits im Mai ein, maßgeblich angetrieben durch eine dynamische asiatische Wirtschaft, die der globalen Industrieproduktion sowie dem Welthandel Impulse verlieh. Infolge ließ das Insolvenzrisiko bereits etwas nach. Entscheidend wird nun sein, dass das vierte Quartal zu keinem deutlichen Einbruch führt. Allerdings steigen die Infektionszahlen weltweit weiter an und erhöhen das Risiko eines globalen Lockdowns zum Jahreswechsel 2020/2021. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein Impfstoff bereits vor dem zweiten Quartal 2021 einen spürbaren Einfluss auf die Konjunkturentwicklung haben wird. 

Tabelle 1 zeigt die geschätzten Insolvenzquoten für die Jahre 2019 und 2020 auf Grundlage der konjunkturellen Entwicklung bzw. des Produktionsverlaufs. Angesichts der fundamentalen Insolvenzquoten ergab sich bereits für das Jahr 2019 ein höheres Insolvenzrisiko, das sich in diesem Jahr – abgesehen von der Chemieindustrie – nochmals deutlich erhöht. Tabelle 1 veranschaulicht zudem, dass das aktuelle Ausfallrisiko im Vergleich zum Jahr 2018 und zum historischen Durchschnitt durchaus bedeutend ist. Eine weniger überzeugende Erholung im Jahr 2021 würde die Insolvenzschätzungen weiter nach oben treiben und das Insolvenzrisiko nochmals spürbar ansteigen lassen. Denn die Abweichungen zwischen tatsächlicher und geschätzter Fundamentalinsolvenzquote sind historisch nicht systematisch. Das bedeutet: Abweichungen bleiben nicht bestehen, sondern sie forcieren einen Anpassungsprozess. Entweder steigen die Insolvenzquoten im Jahr 2021 oder die geschätzten Fundamentalwerte sinken aufgrund einer besseren Konjunktur. Die höheren Schätzergebnisse für die Insolvenzquoten der Jahre 2019 und 2020 zeigen also, wie wichtig eine stabile Konjunkturentwicklung im Jahr 2021 sein wird, um das bereits aufgebaute Insolvenzrisiko zu dämpfen. Sie dokumentieren aber auch, dass ohne Zweifel mit steigenden Insolvenzraten im nächsten Jahr zu rechnen ist.

Was kann ein Impfstoff im Jahr 2021 bewirken?

Wird die Konjunktur im Jahr 2021 nicht mehr durch Lockdown-Maßnahmen belastet, sollte sich die Konjunktur in allen Quartalen positiv entwickeln. Aufholeffekte und die globale Konjunktur stützen diese Erwartung. In diesem Szenario ist in Deutschland ein BIP-Wachstum von über 5 % zu erwarten – auch wenn die vierteljährlichen Wachstumsraten nicht sehr hoch sind – die unterliegende Wachstumsdynamik also nicht sehr stark ausgeprägt ist. Entscheidend ist vielmehr die Annahme keiner weiteren Lockdown-Maßnahmen, die zu einem erneuten Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten führen würden. Ein erfolgreicher Impfstoff, der vor allem in der zweiten Jahreshälfte 2021 das Lockdown-Risiko deutlich reduziert und die Pandemie-Angst in den Hintergrund schiebt, ist hierfür notwendig. Anders ausgedrückt: Bleibt der positive Einfluss des Impfstoffs im Jahr 2021 aus, sind die aktuellen Wachstumsprognosen für das Jahr 2021 zu positiv – und damit wird dann auch das Insolvenzrisiko für konjunktursensitive Branchen unterschätzt.

Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Insolvenzquoten unter der aktuellen Annahme einer stabilen Konjunkturentwicklung im Jahr 2021 – also im Falle keiner weiteren Lockdown-Maßnahmen. Die erwarteten Insolvenzquoten würden zum Teil deutlich sinken, allerdings bleiben sie im Vergleich zum Jahr 2018 auf einem höheren Niveau. So ist selbst bei einer stabilen Konjunkturentwicklung im Jahr 2021 von einem moderaten Anstieg der Insolvenzquoten in den meisten Branchen auszugehen – Ausnahmen könnten Chemie- und Elektroindustrie sein. Anders ausgedrückt: Ein moderater Anstieg der Insolvenzraten ist nur mit einer stabilen Konjunktur im Jahr 2021 realisierbar, getrieben durch eine effektive Eingrenzung der Pandemie mit Hilfe eines erfolgreichen Impfstoffes und keinen weiteren Lockdown-Maßnahmen.

 

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