[Kapitalmarkt-News vom 3. August 2022]

Fazit: Inflationsziele von Notenbanken werden als notwendig angesehen, um Preisstabilität, Glaubwürdigkeit und Transparenz der Geldpolitik sicherzustellen. Doch eigentlich bieten die Ziele mangels eines direkten und stabilen Notenbankeinflusses auf die Inflation eher das Potenzial für Volatilität. Deshalb ist laut Milton Friedman vor allem der Einsatz stabiler geldpolitischer Instrumente erforderlich und kein Preisstabilitätsziel. Stabile Zinsen sind demnach eher als Anker der Stabilität geeignet als ein Inflationsziel.  

Die EZB mag durch ihren Fokus auf den mittelfristigen Inflationsverlauf die Gefahr von Über- oder Untertreibungen ihrer Geldpolitik reduziert haben. Doch die Inflationsrate ist infolge ihrer hohen Volatilität bereits seit 2007 nicht mehr konsistent mit einem Ziel von 2 % oder knapp darunter. Deshalb ist die Sinnhaftigkeit eines Inflationsziels grundsätzlich anzuzweifeln. Denn entweder wird es nicht gebraucht, weil die Preise stabil sind und den Erwartungen entsprechen. Oder das Inflationsziel führt zu einem überzogenen geldpolitischen Handeln, wie es auch in der Euro-Zone zu erkennen ist.

Notenbanken haben die Tendenz zu übertreiben, …

Die Fed strebt ein „soft-landing“ der US-Wirtschaft an. Die Fed-Zinsanhebungen sollen die US-Wirtschaft abkühlen, ohne dass es zu einer Rezession kommt. Notwendig ist diese Konjunkturabkühlung aufgrund der eskalierenden Inflation, die weniger aus den Rohstoffpreisanstiegen resultiert, sondern vor allem aus der anhaltend robusten Nachfrage und dem überhitzten Arbeitsmarkt. So kann die Fed auch nicht so lange wie die EZB auf eine Normalisierung warten, denn die US-Erwerbsquote liegt im Gegensatz zu der in der Euro-Zone spürbar unter dem Vor-Corona-Niveau, was mit einer hohen Anzahl nichtbesetzter Stellen einher geht und Lohndruck zur Folge hat. Es führt kein Weg daran vorbei: Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage muss mit Hilfe steigender Zinsen an die neuen Realitäten der Angebotsseite angepasst werden.

Die Zinsanhebungen der Fed und daraus folgende Reaktionen der Märkte haben zu deutlich steigenden Renditen in den USA geführt. Doch die Märkte rudern schon in die andere Richtung und die Sorge steigt, die Fed übertreibe und die Wirtschaft, die bereits in den ersten beiden Quartalen von 2022 geschrumpft ist, werde weiter belastet. Es bestehen also Zweifel an der geldpolitischen Straffung der Fed. Und dies ist durchaus berechtigt. Eine Wirtschaft durch Zinsen zu stabilisieren bzw. ein „fine-tuning“ sicherzustellen, erweist sich angesichts der Länge, Unsicherheit und Effektivität des geldpolitischen Transmissionsmechanismus als schwieriges Unterfangen. Schließlich ist der Weg von einer Zinsanhebung bis zu einer sinkenden Inflationsrate lang, intransparent und mit Unsicherheiten behaftet – vor allem, wenn es sich um moderate Zinsschritte handelt. Die damit verbundene Unsicherheit führt zur Gefahr von Über- oder Untertreibungen in der Geldpolitk. In der Vergangenheit gibt es viele Beispiele für solche Überreaktionen der Fed. So hatte die Übertreibung in den Zinsanstiegen der Fed Anfang der 80er Jahre eine spürbare US-$-Aufwertung und die südamerikanische Schuldenkrise zur Folge. Die Fed-Zinssenkung zwischen 2000 und 2003 von 6 % auf 1 % verursachte deutlich negative Zinsen, die zur US-Häuserpreisblase beitrugen. Der darauffolgende Zinsanstieg von 1 % auf 5 % zwischen 2004 und 2006 führte wiederum zum Kollaps des Immobilienmarktes.

Zwar entsteht bei einer hohen Inflationsrate Handlungsbedarf, doch die Folgen steigender Zinsen werden erst viel später ersichtlich. Aus dieser Sicht mag die aktuell eher zögerliche Geldpolitik der EZB zu begrüßen sein – vorausgesetzt die Inflationsrate lässt im Jahr 2023 wie erwartet nach. Ansonsten wird sich das zögerliche Verhalten der EZB wegen der spürbaren Zinsanhebungen doch eher als destabilisierende Geldpolitik herausstellen. Das Risiko mag auch gerade deshalb so hoch sein, weil die Zinsen in den letzten Jahren womöglich zu niedrig waren und deshalb der ultimative Handlungsbedarf der EZB bei steigender Inflation enorm ist. Ob Fed oder EZB, ob ambitionierte oder nur graduelle Zinsanhebungen: Das Potenzial bleibt hoch, dass die Geldpolitik ein destabilisierender Faktor für Märkte wie Realwirtschaft ist.

… deshalb ist eher die Stabilität der Geldpolitik als eine Inflationsziel entscheidend

Zwar kann eine hohe Inflation immer durch die Geldpolitik gestoppt werden. Es ist nur eine Frage, wie schwer die Wirtschaft durch Zinserhöhungen in Mitleidenschaft gezogen wird, bzw. wie sehr sie abgekühlt werden muss. Ob dies immer aus einer im Sinne der Konjunkturstabilität sinnvollen Geldpolitik resultiert, bleibt allerdings fraglich. Eine Geldpolitik nach Ermessen scheint deshalb unerwünscht, nicht zuletzt, weil die Sorge besteht, Notenbanken könnten für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Deshalb hat sich in den letzten 30 Jahren mehr und mehr die konkrete Bestimmung eines Inflationsziels durchgesetzt, an dem der Erfolg der Geldpolitik gemessen werden soll. Ein Inflationsziel ist allgemein verständlich, schafft deshalb Transparenz und gibt der Notenbank ein klares und vor allem messbares Ziel. Die EZB hat zwar kein explizites und durch die Euro-Staaten definiertes Inflationsziel. Sie definiert jedoch ihr Ziel der Preisstabilität mit dem Erreichen einer Inflationsrate von mittelfristig 2 %.

Notenbanken sollen ein Anker der Stabilität sein, und diese soll durch ein klares und verständliches Ziel kommuniziert und sichergestellt werden. Der Gedanke ist auch, dass Inflationserwartungen durch ein Inflationsziel verankert werden und so weniger stark auf kurzfristige Entwicklungen reagieren, was wiederum für Stabilität sorgt, aber auch weniger starkes Gegensteuern durch die Notenbanken nötig macht. Doch Notenbanken haben auf das Inflationsziel nur einen indirekten Einfluss. So haben sie zwar ein klares Ziel, aber keine direkte Kontrolle darüber. Schließlich können Notenbanken nur den Zinssatz bestimmen. Somit ist es weniger das Handeln nach Ermessen, was Geldpolitik zu einer Quelle der Instabilität macht, sondern vielmehr das nur indirekt kontrollierbare Ziel. Denn Notenbanken übertreiben oftmals mit ihren Instrumenten, um den gewünschten Effekt in einer gewissen Zeitspanne sicherzustellen – vor allem, wenn sie im Vorfeld zu langsam reagiert haben, bzw. die Geldpolitik nicht neutral war. Ein Fokus auf die mittelfristige Inflationsentwicklung mag den kurzfristigen Handlungsdruck reduzieren, solange der Inflationsprozess stabil ist. Ist er dies nicht, kann auch eine mittelfristige Sicht zu spürbaren geldpolitischen Übertreibungen führen. Grundsätzlich gilt: Ist die Inflationsrate instabil, führt ein definiertes Ziel zu erhöhter Volatilität in der Geldpolitik.

Milton Friedman betonte bereits 1968 die Notwendigkeit einer eher passiven Geldpolitik. Er sah Geldpolitik eher als Anker der Stabilität als ein Instrument, um sich gegen den Wind zu lehnen bzw. Konjunktur- und Inflationszyklen zu glätten. Stabilität bezieht sich laut Friedman in erster Linie auf die Instrumente der Geldpolitik, nicht auf die geldpolitischen Ziele, da es die Instrumente sind, die einen realwirtschaftlichen Einfluss haben, da sie völlig unter dem Einfluss der Notenbank stehen. Zu diesen Instrumenten gehörte für Friedman in erster Linie die Geldmenge, weshalb er sich für eine stabile Geldmengenregel aussprach. Der Glaube, ein stabiles Geldmengenwachstum führt auf Grundlage der Quantitätstheorie des Geldes auch immer zu einer stabilen Inflation, hat sich allerdings nicht bewahrheitet. Trotzdem: Friedmans Gedanke, sich eher auf stabile Instrumente als auf stabile Ziele zu fokussieren, bleibt angesichts des hohen und doch eher intransparenten Einflusses der Notenbank auf die Realwirtschaft relevant. So ist die von Friedman avisierte Geldmengenregel nicht mit einem Inflationsziel zu vergleichen. Schließlich ging Friedman davon aus, dass die Geldmenge völlig unter der Kontrolle der Notenbank ist, was sie dann zu einem Instrument macht. Es ging ihm darum, das Ermessen der Notenbank durch eine Limitierung der Handlungsspielräume ihrer Instrumente zu reduzieren und nicht durch die Festlegung eines ultimativen Ziels, das sie nur begrenzt kontrollieren kann.

Ein Inflationsziel soll den Ermessensspielraum der Notenbank ausschalten im Glauben, so die Geldpolitik als Stabilitätsanker zu festigen. Doch wegen des nur indirekten Einflusses der Geldpolitik auf die Inflation geht dies damit einher, dass die Notenbank ihre Instrumente nach Ermessen so einsetzt, wie sie glaubt, das Inflationsziel am besten erreichen zu können. Das hat laut Friedman eine erhöhte konjunkturelle Instabilität zur Folge. Deshalb sind Notenbanken gut beraten, weniger ein Inflationsziel zu verfolgen, sondern vielmehr auf das Niveau und die Volatilität ihrer Zinsen zu achten. Denn der verführerische Gedanke, Zinsen grundsätzlich niedrig zu halten und wenn nötig anzuheben, um so die Konjunktur zu stärken bzw. Zyklen zu glätten, führt laut Friedman ultimativ zu höherer Volatilität – bei der Inflationsrate wie auch in der Realwirtschaft. Dies mag vor allem auch dann gelten, wenn Zinsen über Jahre auf extremen Niveaus verweilen, weil der geldpolitische Einfluss auf die Inflationsrate im Schatten eines Inflationsziels nicht ausreichend war.  

Euro-Zone: Stärkere Volatilität reduziert Relevanz des Inflationsziels – für die Wirtschaft wie für die EZB

Aufgrund der Unberechenbarkeit und Komplexität der konjunkturellen Entwicklung müssen die Notenbanken ständig ihr geldpolitisches Instrumentarium anpassen. Zudem benötigt die Geldpolitik genügend Flexibilität für Abweichungen vom definierten Inflationsziel. Manche Länder wie Großbritannien wollen dies erreichen, indem sie eine Abweichung vom Inflationsziel von plus/minus einem Prozentpunkt akzeptieren. Die Euro-Zone und die USA wiederum definieren inzwischen ein durchschnittliches oder mittelfristiges Inflationsziel. Dennoch steigt bei anhaltender Zielabweichung bei beiden Vorgehensweisen der Handlungsdruck. So hat die EZB in den letzten Jahren Ankaufprogramme und negative Zinsen umgesetzt, weil die Inflation hartnäckig unter dem Zielwert verweilte. Aktuell geht es in die andere Richtung. Nach langem Warten und Hoffen, dass die Inflationsrate wieder steigt, muss die EZB nun beschleunigt zur Tat schreiten und gegen die hohe Inflation vorgehen. Die anhaltenden und zum Teil gravierenden Revisionen der EZB-Inflationsprognosen bestätigen: Es sind vor allem exogene Treiber, die die Inflationsrate dominieren und nicht die EZB-Zinspolitik. Vor allem aufgrund der Rohstoffpreisdynamik ist die Volatilität der Inflationsrate in der Euro-Zone in den letzten Jahren spürbar angestiegen. So ist die EZB gut beraten, ihr Inflationsziel nur langfristig zu verfolgen bzw. wie von Friedman argumentiert, die Volatilität ihrer geldpolitischen Instrumente im Auge zu behalten. Die hohe Volatilität bedeutet jedoch auch, dass das Ziel selbst als mittelfristiger Anker an Bedeutung verliert, da der eigentliche Inflationsprozess eine abnehmende Konvergenz zum Inflationsziel zeigt. So war das Inflationsziel in den letzten 15 Jahren ein ineffizienter Anker für die tatsächliche Inflationsentwicklung in der Euro-Zone.

Laut Milton Friedman kann die Geldpolitik vor allem eines: Verhindern, dass sie selbst ein destabilisierender Faktor für die Realwirtschaft wird. Deshalb kann das Mandat einer Notenbank auch nicht nur auf eine Dimension reduziert werden. Dies wäre nur dann angebracht, wenn die Inflationsrate grundsätzlich stabil wäre, sodass spürbare Reaktionen der Notenbank nicht notwendig sind. Dann wäre jedoch ein Inflationsziel überflüssig. In der Euro-Zone ist die Inflationsrate eher instabil. Aus dieser Sicht ist die „Verwässerung des Inflationsziels“ in Form einer mittelfristigen Perspektive absolut wünschenswert. Dann stellt sich jedoch die Frage, welche Bedeutung das Inflationsziel überhaupt noch haben kann. Auch zeigen die letzten 15 Jahre sowie aktuelle Inflationsprognosen, dass „mittelfristig“ durchaus lang sein kann.

Nach all den Jahren der Über- und Untertreibung der Inflationsrate stellt sich die Frage, welchen Wert das Inflationsziel als Anker der Stabilität und Referenz für die Geldpolitik allgemein und insbesondere für die EZB in Zukunft noch haben wird. Ein starres Inflationsziel ist im Kontext der aktuellen Inflationsdynamik in der Euro-Zone weder ein effizienter Anker für Inflationserwartungen noch ein Indiz bzw. eine Voraussetzung für eine stabile Geldpolitik. Im Gegenteil: Die starke Volatilität der Inflationsrate benötigt laut Friedman weniger Aktionismus und mehr Stabilität in den geldpolitischen Instrumenten. Nach Jahren extrem niedriger Zinsniveaus und erheblicher Interventionen ist die Kritik an einer destabilisierenden Geldpolitik der EZB angebracht – unabhängig von der eigentlichen Inflationsentwicklung. Nun gilt es zu verhindern, dass die aktuellen Inflationssorgen die geldpolitische Straffung zu einem destabilisierenden Faktor werden lässt. Kein einfaches Unterfangen!

Empfohlene Literatur:
Friedman, M., 1968. The Role of monetary policy, American Economic Review, Nr. 1

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