[IKB-Kapitalmarkt-News – 23. November 2018]
In der Diskussion um die Schuldentragfähigkeit der Euro-Länder und der damit einhergehenden Stabilität der Gemeinschaftswährung richtet sich das Augenmerk vor allem auf Italien, ein Land, das weder das notwendige Wirtschaftswachstum noch die fiskalische Zurückhaltung zeigt, um nachhaltig seine Schuldenquote zu stabilisieren. Ohne eine unterstützende europäische Zinspolitik wäre Italien schon lange nicht mehr kapitalmarktfähig (siehe „Italien: Regierung der fehlenden Verantwortung“). Doch wie steht es um Frankreich? Das Wirtschaftswachstum mag zwar nicht so niedrig sein wie das von Italien, aber auch hier scheint eine anhaltend niedrige Zinslast notwendig zu sein, um die Schuldentragfähigkeit zu sichern bzw. um zumindest ansatzweise das Signal einer angestrebten Senkung der Schuldenquote aufrecht zu erhalten.
Wo steht Frankreich mit seinem Reformbestreben, das mit Präsident Macron sicherlich neuen Schub bekommen hat? Gewinnt die Neuausrichtung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik an Fahrt, oder besteht die Gefahr, dass die Schuldentragfähigkeit Frankreichs auf Sicht ebenso anfällig sein wird wie die Italiens? Zeit für einen Blick auf die französische Reform- und Fiskalpolitik.
Aktueller Konjunkturausblick und Fiskalpolitik in Frankreich – Zinsentwicklung ist entscheidende Größe
Im Zeitraum 2010 bis 2016 ist die französische Wirtschaft durchschnittlich um 1,2 % jährlich gewachsen. 2017 beschleunigte sich das Wachstumstempo auf über 2 %. In den ersten drei Quartalen 2018 legte die Wirtschaft real um 1,75 % zum Vorjahr zu, wobei die Zuwächse zum Vorquartal durchschnittlich nur 0,25 % betragen haben (verglichen mit 0,7 % im Durchschnitt des Jahres 2017). Der private Konsum und die Bruttoanlageinvestitionen leisten gegenwärtig einen positiven Beitrag zum BIP-Wachstum. Da sich die Importdynamik verlangsamt hat und die Ausfuhren schneller wuchsen, trugen die Netto-Exporte im vergangenen Quartal ebenfalls zum BIP-Plus bei. Für das Gesamtjahr 2018 erwartet die IKB ein Wirtschaftswachstum von 1,6 %. Auch 2019 dürfte die Wachstumsrate unter der 2 % -Marke bleiben.
Während das französische reale BIP-Potenzialwachstum gemäß der OECD bei ca. 1,3 % liegen sollte, nimmt die Regierung bei ihren fiskalischen Projektionen ein reales jährliches Wachstum von 1,7 % an. Es würde sich damit zwischen 2017 und 2022 stets um 0,4 Prozentpunkte über dem geschätzten Potenzial bewegen. Doch dies muss nicht unbedingt zu einer zu optimistischen Annahme der französischen Regierung führen; denn auch die deutsche Wirtschaft wächst nun schon seit fünf Jahren über ihrem Potenzialwachstum, das für die letzten Jahre auf ca. 1,4 % geschätzt wird (Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2018). Allerdings hat die französische Regierung aufgrund eines aktuell geringeren als ursprünglich angenommenen Wachstums die Budgetziele (Haushaltsdefizit zum BIP) für 2018 und 2019 bereits auf 2,6 % respektive 2,8 % angepasst (von zuvor 2,3 % und 2,4 %).
Fällt die nominale BIP-Wachstumsrate höher aus als die effektive Zinslast des Staates, ergibt sich fiskalischer Spielraum im Hinblick auf die Primärbilanz (Staatseinnahmen minus -ausgaben ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen), da kein Überschuss zur Stabilisierung der Schuldenquote notwendig ist. Anders ausgedrückt: Ist das nominale Wachstum größer als die effektive Zinsrate, kann durch einen Primärüberschuss eine Senkung der Schuldenquote erreicht werden. Im Gegensatz zu Italien ist Frankreich dies im Jahr 2017 gelungen. Frankreich bezahlte im letzten Jahr trotz höherer Schuldenquoten über 10 Mrd. € weniger Zinsen als 2011. Durch die weiter sinkende bzw. stabile effektive Zinslast ist auch auf Sicht – trotz eines seit der Finanzkrise enttäuschenden Wirtschaftswachstums – davon auszugehen, dass die Zinsrate über dem BIP-Wachstum liegen sollte. Hier unterscheidet sich Frankreich deutlich von Italien, dessen Risikoprämie sich aufgrund der Fiskalpolitik des Landes ausweitet. Aufgrund des Primärbilanzdefizits gelang jedoch bis dato kein Schuldenabbau. Auch soll das von der EU-Kommission geschätzte strukturelle Primärbilanzdefizit in Frankreich im nächsten Jahr das höchste in der Euro-Zone werden. Im Kontext einer möglichen Wachstumsverlangsamung kann deshalb an einem angestrebten Rückgang der Schuldenquote kurz- und mittelfristig gezweifelt werden.
Grundsätzlich erweist sich die französische Wirtschaft aufgrund ihrer Geschlossenheit und dauerhaft staatlicher Interventionen als eher träge. Dies war in der Finanzkrise vorteilhaft, behindert allerdings in den letzten Jahren eine dynamische Entwicklung des Wirtschaftswachstums und damit auch des französischen Arbeitsmarkts. Der Anteil der nichterwerbstätigen Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren, die weder an Bildungs- noch an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, ist selbst 2017 nur marginal zurückgegangen und betrug 20,4 %. Hier zeigt sich die nur schwache Integrationsfähigkeit des französischen Arbeitsmarktes. Während die Arbeitslosenrate in der Euro-Zone seit der Finanzkrise insgesamt zurückging, ist eine entsprechende Entwicklung in Frankreich erst seit der zweiten Hälfte 2016 zu beobachten. Das unterstreicht die geringe Reaktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes auf die BIP-Entwicklung in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone.
Reformen: Fehlende gesellschaftliche Unterstützung nährt Zweifel an effektiver Umsetzung
Die Reformagenda Emmanuel Macrons umfasst viele Elemente der Hartz-IV-Reform: geringere Kündigungsaufwendungen für Unternehmen, strengere Voraussetzungen, um Arbeitslosengeld zu erhalten, verbesserte Dienstleistungen durch Arbeitsagenturen und ein flexibleres Tarifverhandlungssystem. Die Arbeitslosenquote und der Wachstumsausblick wirken jedoch wenig unterstützend. Angesichts der weiterhin hohen Jugendarbeitslosigkeit ist das Enttäuschungs- und Protestpotenzial in der Gesellschaft sehr hoch und das Erstarken populistischer Parteien bleibt ein Risiko.
Siebzehn Monate nach Amtsübernahme hat Macron einige im Wahlkampf in Aussicht gestellte Reformen umsetzen können. Gleichzeitig sind allerdings seine Zustimmungswerte von 54 % auf unter 30 % gefallen. So ist die französische Führung auf schnelle Erfolge angewiesen, um die Reformpolitik zu legitimieren. Laut IWF-Schätzung soll die Arbeitslosenrate aber selbst bei vollständiger Umsetzung der Arbeitsmarktreform erst über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren um 2 bis 3 Prozentpunkte zurückgehen. Ob Macron diese Zeit von den französischen Wählern zugestanden bekommt, ist fraglich. Zudem rudert die französische Regierung bei einigen Themen bereits zurück. Um eine noch größere Korrektur der Haushaltskennzahlen im Kontext des abschwächenden Wirtschaftswachstums zu vermeiden, hat sie die Senkung der Sozialabgaben für französische Unternehmen, die für Januar 2019 vorgesehen war, auf Oktober 2019 verschoben. Auch der Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Sektor schreitet nicht voran, wie angekündigt. Ob die Reformen das Potenzialwachstum Frankreichs entscheidend verbessern können und damit eine nachhaltige Senkung der Schuldenquote erreicht werden kann, bleibt damit grundsätzlich fragwürdig. Ein Wahlerfolg der Partei „La République en Marche!“ bei der Europawahl 2019 und bei den Kommunalwahlen 2020 wird in diesem Zusammenhang immer wichtiger.
Einschätzung der französischen Fiskalpolitik
2017 betrug das staatliche Budgetdefizit in Frankreich 2,7 % des BIP, verglichen mit 1,0 % in der Euro-Zone. Seit 1974 hat der französische Haushalt keine Überschüsse mehr erzielt. Mit einem BIP-Anteil von über 56 % ist die Ausgabenquote des französischen Staates eine der höchsten aller europäischen Länder. Im Rahmen des mehrjährigen Stabilitätsprogramms seit Frühjahr 2018 strebte die Regierung eine Senkung um ganze 3 Prozentpunkte von 2017 bis 2022 an. Gemäß der neuesten fiskalischen Projektionen der französischen Regierung sollen die Staatsaugaben 2019auf 54 % des BIP sinken. Die nur ansatzweise zu erkennende Budgetkonsolidierung Frankreichs in den letzten Jahren resultierte aus steigenden Steuereinnahmen, während andere Staaten des Euro-Raums vor allem die staatlichen Ausgaben kürzten. Die Reduktion des französischen Defizits ist also auf eine wachsende Belastung der Wirtschaft zurückzuführen. Frankreich hat im europäischen und internationalen Vergleich eine der höchsten Steuerlasten im Verhältnis zum BIP.
Empirische Analysen zeigen, dass die französische Regierung durchaus versucht, eine für eine stabile Schuldenquote notwendige Fiskalpolitik zu verfolgen. Anders als die italienische Regierung ist Paris bemüht, die für eine stabile Schuldenquote notwendigen fiskalischen Maßnahmen zumindest ansatzweise umzusetzen. Denn die Differenz zwischen der erreichten und der für eine stabile Schuldenquote notwendigen Primärbilanz beeinflusst die eigentliche Primärbilanz in der Folgeperiode. Sprich: Weitet sich das Primärdefizit zu stark aus, führt dies zu Gegenmaßnahmen der französischen Regierung und damit zu einer Verbesserung der Primärbilanz in der Folgeperiode. Ähnliche Schätzungen für Italien können dies nicht eindeutig bestätigen. Das Problem Frankreichs liegt eher darin, dass diese Verbesserung in den letzten Jahren vor allem durch höhere staatliche Einnahmen erfolgte, was mit einer zusätzlichen Belastung der Wirtschaft einherging.
Frankreich versucht, durch höhere Steuereinnahmen seine Primärbilanz zu verbessern, was die Schuldenquote kurzfristig positiv beeinflusst. Das belastet aber den langfristig entscheidenden Treiber der Schuldenquote, nämlich das Wirtschaftswachstum. So ist trotz aller Bemühungen keine nachhaltige Senkung der Schuldenquote zu erkennen. Im Gegenteil: Die Regierung befindet sich in einem Teufelskreis; fiskalische Maßnahmen belasten das Wachstum, was nicht nur die Schuldentragfähigkeit langfristig in Frage stellt, sondern aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit auch gesellschaftlichen Unmut schürt, der wiederum jegliche Reformanstrengungen zur Steigerung des Wachstums erschwert.
Fazit
Anders als die italienische Regierung bemüht sich Paris, eine stabile Schuldenquote zu garantieren, indem die Fiskalpolitik bei einem Anstieg der Verschuldung zumindest den Versuch unternimmt, angemessen zu reagieren. Problematisch ist allerdings, dass diese fiskalischen Bemühungen vor allem durch höhere Steuern finanziert werden, was zu Lasten des Wirtschaftswachstums geht, dessen Höhe wiederum entscheidend ist, um die Schuldenquote nachhaltig in den Griff zu bekommen. Deshalb ist eine langfristige Senkung der französischen Schuldenquote trotz erwiesener fiskalischer Disziplin nicht gesichert. Zudem neigt der französische Staat traditionell zu einer interventionistischen Wirtschaftspolitik, was strukturelle Reformen erschwert.
Ob Präsident Macron den Teufelskreis aus niedrigem Wachstum, notwendigen fiskalischen Gegenmaßnahmen und steigender sozialer Unzufriedenheit durchbrechen kann, bleibt abzuwarten. Die positiven Effekte einer sinkenden Zinslast sind sicherlich noch auf Sicht unverzichtbar.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Zudem lehrt der promovierte Volkswirtschaftler an der Nelson Mandela University in Südafrika. Zuvor arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen.
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