[Kapitalmarkt-News vom 25. Januar 2024]
Fazit: Wie erwartet beließ die EZB ihre Zinssätze unverändert. Mögliche Auswirkungen von Zweitrundeneffekten und die unsichere Konjunkturentwicklung nötigen die EZB auf Sicht zu fahren. Sie wird und will datenabhängig von Sitzung zu Sitzung entscheiden.
Auch wenn heute konkrete Hinweise zu Zinssenkungen vermieden wurden, besteht Raum, eine Normalisierung der Zinspolitik im laufenden Jahr einzuleiten. Die IKB erwartet ab Mitte des Jahres eine erste Zinssenkung der EZB – insgesamt könnte die Notenbank die Zinsen bis Ende des Jahres um 100 bp senken.
Normalisierung versus Konjunkturstütze
Die Kapitalmärkte erwarten baldige und deutliche Zinssenkungen. Dies gilt auf beiden Seiten des Atlantiks. Allerdings zeigt sich der Arbeitsmarkt in den USA immer noch robust, sodass kein akuter Handlungsdruck für die Fed zu bestehen scheint. Auch ist unklar, wie sich der mittelfristige Inflationspfad und die Löhne entwickeln. Sicherlich wird sich die US-Wirtschaft infolge der geldpolitischen Straffung abkühlen. Unsicher bleibt jedoch, wie stark die Fiskalpolitik in einem US-Wahljahr die geldpolitische Straffung verwässern wird. Dies wiederum ist entscheidend dafür, ob die Fed ihre Zinspolitik normalisieren kann oder zur Stützung der Wirtschaft mehr tun muss. Will die Fed die Wirtschaft stützen, müsste sie angesichts der Dauer des Transmissionsmechanismus bald und zügig handeln.
Anders als in den USA ist die kurzfristige Konjunkturentwicklung in der Euro-Zone absehbarer. Denn die geldpolitische Straffung zeigt klar ihre Folgen. Dazu gehört die schwache Entwicklung der Kreditvergabe. Zudem gibt es wenig Zweifel daran, dass das BIP-Wachstum in der Euro-Zone vor allem im Jahr 2024 spürbar unter ihrem Potenzial liegen wird. Damit ist auch das Risiko von Zweitrundeneffekten eher überschaubar, wenn auch nicht völlig zu vernachlässigen. Ohne Zweifel kann die EZB deshalb eine Phase der geldpolitischen Normalisierung im Jahr 2024 einleiten.
Konkret bedeutet dies erste Zinssenkungen Mitte 2024. Doch wie weit wird die EZB gehen? Eine Normalisierung der Geldpolitik würde eher mit einer Konvergenz der Zinsen hin zu den langfristigen Gleichgewichtssätzen bzw. mit einem geldpolitisch neutralen Zinsniveau einhergehen, während eine konjunkturunterstützende Geldpolitik mit drastischen Zinssenkungen zu einer Überreaktion und damit kurzfristig zu Zinsen unter dem langfristigen Niveau führen könnte. Doch wo der Gleichgewichtszinssatz liegt, ist nicht einfach zu bestimmen. Schließlich ist er keine Konstante, sondern hängt von der Interaktion zwischen Angebot und Nachfrage ab.
Wieviel Raum für Zinssenkungen hat die EZB?
Laut EZB-Schätzungen sinkt der inflationsbereinigte, langfristige Gleichgewichtszinssatz schon länger. Bei der Euro-Einführung lag er bei einem Niveau von ca. 2 %, inzwischen wird er eher bei -1 % gesehen. Mit einem Inflationsziel von 2 % ergibt sich damit für den nominalen Zinssatz ein Niveau von 1 %. Gemäß EZB-Einschätzung besteht deshalb kaum Gefahr, dass ein niedriger Zinssatz von 1 % zu einem Ungleichgewicht und damit Inflationsdruck führen sollte. Der deutliche Inflationsanstieg der letzten Jahre hat jedoch gezeigt, dass ein negativer realer Zinssatz kaum zu einer stabilen Inflation von 2 % führt, da Preisschocks relativ schnell Inflationsschübe bewirken. Dies gilt vor allem, wenn die Fiskalpolitik niedrige Zinsen nutzt, um den Einfluss von Schocks abzufedern. Jüngste Inflationsentwicklungen lassen deshalb vermuten, dass ein Niveau von -1,0 % zu niedrig für den realen Gleichgewichtszinssatz ist, vor allem, wenn strukturelle Probleme das Potenzialwachstum belasten und fiskalische Stimulierung die Nachfrage stärkt.
Die Taylor-Regel berechnet den geldpolitisch notwendigen Zinssatz auf Basis von Gleichgewichtszinssatz, Inflations- und Konjunkturentwicklung. IKB-Schätzungen auf Basis der Taylor-Regel deuten ebenfalls auf eine deutliche Senkung des langfristigen realen Zinssatzes auf inzwischen -0,7 % hin. Abb. 1 zeigt den realen Leitzins und den mit der Taylor-Regel berechneten notwendigen geldpolitischen Leitzins (jeweils mit der Annahme 1,0 % bzw. -0,7 % für den Gleichgewichtszins) auf Grundlage der IKB-Erwartungen bzgl. Wachstum und Inflation. Rückblickend zeigt Abb. 1 zum einen, dass die EZB zu lange gewartet und zu zögerlich den Zins angehoben hat, um den jüngsten Inflationsanstieg zu bekämpfen. Zum anderen ergibt sich für das Jahr 2024 eindeutig Raum für Zinssenkungen. Der berechnete Taylor-Zinssatz liegt für 2024 und 2025 im Schnitt bei 1,5 %. Bei einem Gleichgewichtszinssatz von 1 % läge er zwar bei 3,2 %. Beim aktuellen Wert des Leitzinses von 4,5 % besteht jedoch in beiden Fällen Raum, die Zinsen zu senken. Da der neutrale oder reale Gleichgewichtszinssatz in der Zukunft zwar höher als -0,7 % ist, aber kurzfristig immer noch unter 1 % liegen sollte, besteht Spielraum für Zinssenkungen von mindestens 200 bp, um die Zinspolitik zu normalisieren.
Eine Senkung des Einlagenzinssatzes von aktuell 4,0 % auf 2,0 % bis 2025 würde demnach konsistent mit Inflations- und Wachstumserwartungen der IKB sein. Da dies eine Konvergenz zum Gleichgewichtszinssatz darstellt, ist solch eine Einschätzung nicht als aggressiv zu sehen. Auch bei höheren Inflationserwartungen bzw. einem erhöhten Risiko von Zweitrundeneffekten wäre diese Erwartung immer noch gerechtfertigt. Schließlich ist die aktuelle geldpolitische Straffung außerordentlich restriktiv, gemessen an der Geldmengenentwicklung.
Einschätzung:
Es ist kein Wunder, dass EZB-Präsidentin Lagarde zumindest in Interviews Zinssenkungen in Aussicht stellt – wenn auch erst für Mitte 2024. Denn der Raum für eine Normalisierung der Geldpolitik besteht – trotz Prognoserisiken. Die IKB erwartet für dieses Jahr insgesamt Zinssenkungen von 100 bp ab Mitte 2024 und weitere 100 bp im Jahr 2025. Für stärkere oder frühere Zinssenkungen wären hingegen deutlich trübere Konjunkturaussichten notwendig, als dies allgemein erwartet wird.
Pressekonferenz
Im Mittelpunkt der Pressekonferenz stand die Frage, wann die EZB mit der Lockerung ihrer Geldpolitik beginnen wird. EZB-Präsidenten Lagarde wollte sich hier auf keinen Zeitpunkt festlegen und betonte die Datenabhängigkeit der Entscheidung. Noch verhindern Unsicherheiten eine klarere Ausrichtung. Zu diesen Unsicherheiten gehören ein möglicherweise zu starker Anstieg der Löhne, ein zu aggressives Preissetzungsverhalten der Unternehmen, eine weiterhin enttäuschende Entwicklung der Arbeitsproduktivität sowie neue weitere, aus politischen Ereignissen resultierende Schocks. Aufgrund dieser Vielzahl an Risiken fällt es schwer, den ersten Zinsschritt zeitlich genauer einzugrenzen.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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