[Kapitalmarkt-News vom 17. Oktober 2024]
Fazit: Steigende Konjunkturrisiken und eine daraus folgende nachlassende Inflation erfordern zunehmend eine neutrale geldpolitische Ausrichtung. Zwar ist das Niveau des neutralen Gleichgewichtszinssatzes nicht bekannt und beruht auf einer Schätzung. Dennoch gibt es wenig Zweifel an der aktuell restriktiven Ausrichtung der EZB – selbst nach der heutigen Senkung des Einlagenzinssatzes auf 3,25 %. Die IKB erwartet eine weitere Zinssenkung von 25 bp im Dezember und sieht den neutralen Zinssatz erst bei einem Niveau von 2,5 % erreicht.
Die EZB hatte es bereits in ihrer letzten Sitzung angedeutet, und die Wirtschaftsdaten bestätigen es zunehmend: Das Pendel ist von Inflations- zu Konjunkturrisiken umgeschlagen. Denn auch wenn Lohnerhöhungen immer noch auf einen gewissen Kostendruck hindeuten: Die Konjunkturlage – allen voran die Nachrichten aus Deutschland – signalisieren eher Druck auf Gewinnmargen als Spielräume für Preiserhöhungen. Die Zweitrundeneffekte durch die Lohnentwicklung sollten demnach überschaubar bleiben bzw. keinen sich selbst verstärkenden Prozess mit der Inflationsdynamik bilden. Dies gilt für die Euro-Zone insgesamt.
Europäische sowie globale zyklische Entwicklungen sprechen für weitere Zinssenkungen. Die europäische Notenbank hat bereits im September ihre Konjunkturprognosen für die Euro-Zone abwärts revidiert und erwartet aktuell ein BIP-Wachstum von 0,8 % in diesem und 1,3 % im kommenden Jahr. Diese Prognosen deuten auf keine Gefahr einer Überhitzung und somit einer eskalierenden Lohnspirale hin. Zudem übt ein sich eintrübendes globales Konjunkturbild Druck auf die Rohstoffmärkte aus. Denn weder der Ausblick für die USA noch für China kann aktuell überzeugen. Im Gegenteil: Die IKB geht weiterhin von einer Abkühlung der US-Wirtschaft aus, was für eine weitere Zinssenkung der Fed noch in diesem Jahr spricht.
Diese Entwicklung wird begleitet durch strukturelle Anpassungen, allen voran die zunehmende Spaltung der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen. Dies gilt vor allem gegenüber China. Die Folge ist ein sich ausweitender Protektionismus und erhöhte Staatseinmischungen. Dadurch sinkt das globale Potenzialwachstum, was für Inflationsdruck und damit einem höheren Gleichgewichtszinssatz sorgen könnte. Allerdings wird ein eskalierender Protektionismus und geopolitische Spannungen auch mit einer generellen Stimmungseintrübung einhergehen, was die Konjunktur belasten wird. So ist infolge von Deglobalisierungskräften zwar von einem grundsätzlich höheren Zinssatz auszugehen. Die konjunkturellen Folgen sollten den Einfluss jedoch dämpfen, zumindest kurzfristig.
Doch wo liegt das neutrale Zinsniveau? Nach der Corona-Pandemie wurde der reale Gleichgewichtszinssatz deutlich unter 2 % gesehen. Inzwischen deuten Schätzungen auf ein inflationsbereinigtes Niveau von um oder über 0 % hin. Bei einem Inflationsziel von 2 % läge also das geldpolitisch neutrale Zinsniveau aktuell zwischen 2,0 % und 2,5 %. Ohne eine spürbare konjunkturelle Eintrübung ist deshalb auch kaum zu erwarten, dass Bundrenditen unter 2,0 % fallen. Im Gegenteil, da die Zinskurve weiterhin invers ist, besteht eher die Gefahr, ein Zögern der EZB könnte dem langen Ende Auftrieb geben.
Aktuell ist der Einlagenzinssatz der EZB weit von seinem neutralen Niveau entfernt. So gibt es angesichts der aktuellen Konjunktur- und Inflationsprognosen wenig Zweifel an der Notwendigkeit, weitere Zinssenkungen vorzunehmen. Trübt sich zudem der Konjunkturausblick weiter ein, was aktuell wahrscheinlicher erscheint als positive Überraschungen, könnte sich die Geldpolitik im Jahr 2025 sogar expansiv ausrichten. Der Leitzins wäre dann niedriger als der Gleichgewichtszinssatz. So gibt es aktuell wenig Zweifel daran, dass die EZB ihren Normalisierungsprozess fortführen und Zinsen in 25 bp-Schritten senken sollte – zumindest bis ein Niveau von 2,5 % erreicht ist. Eine Inflationsprognose der EZB für 2025 von 2,2 % ändert daran wenig. Die Inflationsprognose ist konsistent mit dem Inflationsziel und signalisiert die Notwendigkeit eines geldpolitisch neutralen Zinsniveaus. Zudem erachtet die IKB es durchaus für möglich, dass die Inflationsrate im Jahr 2025 unter dem Ziel von 2 % liegen könnte.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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