[Kapitalmarkt-News vom 8. September 2022]
Fazit: Die Zinserhöhung um 75 bp mag als klares Signal einer geldpolitischen Straffung angesehen werden. Allerdings wären noch mehrere solcher Schritte notwendig, bevor die EZB auch nur ansatzweise in eine neutrale – geschweige denn straffe – geldpolitische Ausrichtung kommt. So hat die europäische Notenbank weitere Zinsanhebungen bereits heute in Aussicht gestellt, die Höhe wird von der Datenlage bestimmt. Weiterhin erwartet sie keine Rezession in der Euro-Zone. Doch diese wird angesichts der aktuellen Geldpolitik zunehmend notwendig. Also: Entweder wird das Wirtschaftswachstum nach unten oder die EZB-Zinsen werden nach oben überraschen. So oder so – für einen nachlassenden Inflationsdruck, den die EZB in jeder Prognose erwartet, wird eine ausreichende Abkühlung der europäischen Wirtschaft benötigt. Die IKB erwartet Ende 2022 einen Einlagenzins von mindestens 2 %.
Rohstoffpreise als alleiniger Grund für Prognosefehler?
Jedes Quartal veröffentlicht die EZB neue Inflations- und BIP-Wachstumsprognosen für den Euro-Raum. Und wie schon in vorangegangenen Quartalen muss sie auch dieses Mal die Inflationsprognosen für 2022 und 2023 nach oben anpassen. Der aktuelle Prognosewert für die Teuerung ist somit weit entfernt von dem vor einem Jahr. Die EZB unterschätzt nun schon länger den Inflationsdruck. Sicherlich müssen auch dieses Mal die Rohstoffpreise herhalten. Sie sind die Grundlage jeder Inflationsprognose, und bereits früher war die Argumentation der EZB: Rohstoffpreise sind stärker angezogen, als erwartet worden war. Mit dem Krieg in der Ukraine haben sie zusätzlich Auftrieb erhalten. Und sicherlich ist die Aussage vertretbar: Niemand hatte derartig steigende Energiepreise auf dem Radar. Allerdings nimmt im Umfeld hoher Inflationsraten die Bedeutung der Rohstoffpreise ab. Zum einen, weil es erste Anzeichen einer Entspannung zu geben scheint – zumindest was industrienahe Rohstoff- sowie Lebensmittelpreise betrifft. Zum anderen, weil vor allem Lohnkosten zunehmend den Inflationsdruck vorantreiben werden. Jahrelang wurde argumentiert, dass eine Lohn-Preis-Spirale unwahrscheinlich ist. Wie plausibel diese Annahme ist, werden die kommenden Quartale zeigen. Sicherlich kann die EZB durch zügige Zinsanhebungen die Möglichkeit solch einer Spirale spürbar reduzieren und so das Risiko der Inflationsprognosen etwas ausgeglichener gestalten.
Seit 2010 ist die Inflationsrate in der Euro-Zone um Einiges volatiler als in den ersten zehn Jahren nach der Euro-Einführung. Empirische Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine stärkere Volatilität der Rohstoffpreise ein entscheidender Faktor hierfür ist. Die Rohstoffpreisschwankungen sind also nicht erst seit 2021 ein Grund für die Prognoseschwäche und die Volatilität der Inflationsrate. So hat jeglicher Durchschnitt der Inflationsrate – von 2 % aber auch darunter – in den letzten 12 Jahren kaum eine Relevanz als Indikator für den zu erwartenden Inflationsprozess gehabt. In ihren Prognosen hält die EZB jedoch an einer graduellen Konvergenz hin zum Inflationsziel fest. Ob dies die Glaubwürdigkeit des Inflationsziels erhöht, ist jedoch vor dem Hintergrund der Prognosekorrekturen sowie der Volatilität der Inflationsrate zunehmend anzuzweifeln.
Die letzten 12 Jahre zeigen, dass es der EZB nicht gelungen ist, die durch Rohstoffpreise induzierten Schwankungen der Inflationsrate zu glätten. Dies ist nicht überraschend, da sich der Transmissionsmechanismus der Notenbank doch als recht komplex darstellt. Doch gerade aus diesem Grund und in Anbetracht der nun schon länger andauernden Höhe der Inflationsrate ist ein entscheidendes Handeln aktuell notwendig. Denn noch immer scheint die Teuerung nicht unter der Kontrolle der EZB zu sein, sondern sie ist eher das Ergebnis von eintretenden oder nicht eintretenden Annahmen. Die Zinsen haben keinen spürbaren Einfluss, weil sie zu niedrig sind. Vor allem mittelfristige Inflationsprognosen bleiben deshalb mit einem hohen Risiko behaftet. Die heutige Zinserhöhung allein ändert daran auch wenig. Hier sei nochmal betont, dass eine Notenbank durch Zinsanhebungen Inflationsdruck immer reduzieren kann. Nur im Fall von Deflationsdruck kommt die Effektivität der Geldpolitik an ihre Grenzen.
Schon viel zu lange hält die Inflationsdynamik an, als dass auf eine Abkühlung der Rohstoffpreise allein vertraut werden kann, um eine spürbare Gegenbewegung im unterliegenden Inflationsdruck sicherzustellen. So ist die Frage, wie sich die Rohstoffpreise entwickeln werden hingegen von immer geringerer Bedeutung. Steigen sie weiter, gibt es erneuten Preisdruck und eskalierende Zweitrundeneffekte. Sinken sie, sind sie im Kontext der zu erwartenden Lohnforderungen von immer weniger Relevanz. Es führt also kein Weg daran vorbei: Die Nachfrage in der Wirtschaft muss gedämpft werden, um den Inflationsdruck in den Griff zu bekommen. Es braucht also eine Rezession, um die Inflationsdynamik zu brechen. Die Frage ist nur, wie hoch die Zinsen hierfür steigen müssen. So betont die EZB immer wieder ein nach unten gerichtetes Konjunkturrisiko und, dass bereits kleine Zinsschritte infolge des hohen Verschuldungsgrades in der Euro-Zone einen starken Einfluss auf die Wirtschaft haben. Allerdings ist dies nur richtig, wenn sich die Fiskalpolitik zurückhält. Auch zeigt das BIP-Wachstum von 0,8 % im zweiten Quartal, dass die Wirtschaftsdynamik in der Euro-Zone immer noch robust ist.
EZB-Zinsentscheid und Pressekonferenz
Die EZB steht zunehmend unter Handlungsdruck: Zum einen heben Notenbanken weltweit ihre Zinsen spürbar an, mit der Absicht ihre Volkswirtschaften nennenswert abzukühlen. Zum anderen geben die Inflationsprognosen wenig Grund für Vertrauen. Die EZB hat keine Alternativen mehr: „Temporäre“ Preisanstiege dauern nun schon viel zu lange an, um keine Zweitrundeneffekte zu verursachen. Die heutige Erhöhung der Zinsen um 75 bp stellt jedoch nur eine marginale Straffung dar. Schließlich bleiben reale Zinsen tief negativ. Auch wird die EZB einem spürbaren Anstieg am langen Ende der Zinskurve und damit erhöhtem Druck auf die Fiskalpolitik durch ihr Fragmentierungsprogramm TPI gegensteuern. Trotz Zinserhöhung bleibt der geldpolitische Einfluss auf die Wirtschaft deshalb überschaubar. Für die verbleibenden zwei EZB-Treffen ist zwar von weiteren Zinsanstiegen von mindestens 50 bp bei jedem Treffen auszugehen. Die Inflationsprognose der EZB muss aber weiter darauf bauen, dass es eher Rohstoffpreise und vor allem eine allgemeine Konjunktureintrübung sind als Zinsanhebungen, warum die Inflationsrate im Jahr 2023 und 2024 nachlassen wird. Noch immer scheint die EZB die Hoffnung nicht aufzugeben, dass eine durch die Notenbank induzierte Rezession nicht notwendig ist.
Punkte aus der Pressekonferenz:
- Wie erwartet, hat die EZB ihre Leitzinsen um 75 bp angehoben. So liegt der Einlagenzins nun bei 0,75 %. Auch werden die EZB-Tilgungen aus dem PEPP-Programm weiterhin reinvestiert – bis mindestens Ende 2024. Zusammen mit dem TPI-Programm stellt die EZB sicher, dass die Kapitalmärkte ausreichend Liquidität haben, und es zu keiner unerwünschten Spreadsausweitung kommen wird.
- Die EZB hat auch für die kommenden Sitzungen Zinsanhebungen in Aussicht gestellt. Allerdings betonte sie erneut, dass sie sich von den Daten leiten lassen wird. Zinsanhebungen von unter 50 bp können jedoch als eher unwahrscheinlich gesehen werden. So sollte der Einlagenzins bis Ende 2022 bei mindestens 2 % liegen. Weitere Zinsanhebungen in der ersten Hälfte 2023 sind ebenfalls nicht auszuschließen – vor allem, wenn sich die Konjunktur relativ robust hält, und es zu keiner Rezession Ende 2022 bzw. Anfang 2023 kommen wird.
- Die EZB ist davon überzeugt, dass die aktuellen Inflationstreiber nachlassen werden und die Normalisierung der Geldpolitik voranschreitet, die Inflationsrate wird sinken. Die EZB erwartet eine Inflationsrate in der Eurozone von 8,1 % im Jahr 2022, 5,5 % im Jahr 2023 und 2,4 % im Jahr 2024. Diese Prognosen liegen erneut deutlich über denen des Vorquartals (Juni 2022). Die BIP-Wachstumsprognosen wurden hingegen nach unten angepasst.
- Eine deutliche Abkühlung der Wirtschaft ist zu erwarten: Reale Einkommensverluste, nachlassende Nachfrage nach Dienstleistungen infolge einer Normalisierung des Konsumverhaltens, nachlassende globale Nachfrage und hohe Unsicherheit belasten den Ausblick. Dies sollte laut EZB zu einer Stagnation der Euro-Wirtschaft im vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023 führen. Die EZB erwartet ein BIP-Wachstum von 3,1 % im Jahr 2022, 0,9 % im Jahr 2023 und 1,9 % im Jahr 2024. Noch hält sich die EZB zurück, ihre Konjunkturerwartung durch eine Rezession zu beschreiben. Dennoch sieht sie weiterhin das Risiko nach unten gerichtet.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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