[Kapitalmarkt-News vom 8. August 2024]
Fazit: Ein höheres Inflationsziel von Notenbanken führt zu mehr Volatilität in der Realwirtschaft, was Investitionen belastet und Inflationsprämien sowie reale Zinsen ansteigen lässt. All dies deutet auf ein geringeres als höheres Wirtschaftswachstum hin. Da der Inflationsprozess in den letzten Jahren eher instabil und von starken Abweichungen zum Inflationsziel geprägt war, braucht es gerade jetzt ein klares Bekenntnis der EZB zu einer schnellen Zielerreichung und vor allem zur Stabilität der Inflationsrate. Die EZB ist deshalb gut beraten, ihr 2 %-Inflationsziel keinesfalls zur Diskussion zu stellen. Es sollte zudem weniger stark betont werden, dass es nur langfristig erreicht werden muss. In den kommenden Jahren ist dagegen ein klarer Fokus der EZB auf eine zügige Erreichung des Inflationsziels und vor allem auf eine klare Volatilitätsreduzierung notwendig. So besteht im September Raum für eine Normalisierung der Geldpolitik und damit für eine Zinssenkung von 25 bp. Die IKB sieht jedoch eher das Risiko bei nicht schnellen Zinssenkungen als bei einer höheren Inflation.
Höheres Inflationsziel kontraproduktiv
Die anstehende Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB hat erneut eine Diskussion über die richtige Höhe des Inflationsziels angestoßen. Dabei vertritt eine Vielzahl von Volkswirten weiterhin die Einschätzung, ein Inflationsziel von 3 % wäre geeigneter als das Ziel von 2 %. Eines der Hauptargumente ist die Erwartung einer strukturell höheren Inflation. Gründe hierfür sind die Gefahr einer De-Globalisierung bzw. höhere Zölle wichtiger Handelspartner, aber auch eine alternde Bevölkerung in der Euro-Zone. Weiter wird argumentiert, ohne eine Anpassung des Inflationsziels wären zur Bekämpfung der Teuerung unnötig hohe Zinsen notwendig. Der Gedanke ist also, das Inflationsziel der EZB sollte den zunehmenden Inflationsdruck in den kommenden Jahren berücksichtigen, damit hohe Zinsen verhindern werden bzw. das Inflationsziel glaubwürdig bleibt.
Auch wenn dieses Argument auf den ersten Blick plausibel erscheint, es ist nicht haltbar. Höhere Zölle verursachen einen einmaligen Preisanstieg, keine nachhaltige Inflation. Und De-Globalisierung bzw. eine alternde Bevölkerung reduzieren das Potenzialwachstum. Bei gleicher Nachfrage ergibt sich ein Ungleichgewicht, das in erster Linie zu einer einmaligen Preisanpassung und damit Kaufkraftverlusten führt. Das Gleichgewicht wird durch den sinkenden Wohlstand dann wieder hergestellt. Das Zulassen einer höheren Inflation durch die Anpassung des Inflationsziels wird daran nichts ändern; vielmehr wird der Prozess, wenn er nicht frühzeitig gebremst wird, zu einer immer weiter ansteigenden Inflation führen. Die Notenbank muss deshalb mit einer Anhebung des Gleichgewichtszinssatzes reagieren. Doch dies wäre bei einer stabilen Inflation von 3 % genauso wie bei 2 % der Fall. Zu argumentieren, eine höhere Inflation führe zu mehr Wirtschaftswachstum und löse Angebotsprobleme infolge einer alternden Bevölkerung, ist mit der Aussage gleichzusetzen, mehr Geld drucken schaffe Wohlstand. Deshalb gibt es keinen Trade-off: Höhere Inflation führt nicht zu höherem Wachstum.
Kurzfristig könnte sich tatsächlich mit einer Anpassung des Inflationsziels von 2 % auf 3 % der Zinsanpassungsdruck auf die Notenbank reduzieren. Doch um die Inflation dann nachhaltig bei 3 % zu halten, müsste die EZB erst recht die Zinsen kräftig anheben. Mittelfristig wären sogar höhere reale Zinsen notwendig als bei einem Ziel von 2 %. Denn je höher die Inflation ist, desto volatiler wird sie und desto stärker müssen die Gegenkräfte (Zinsen) ausfallen, um den Preisbildungsprozess ansatzweise stabilisieren zu können. Denn eine höhere Inflation und damit auch eine Geldmengenausweitung bringen mehr Unsicherheit und bergen die Gefahr von einer immer weiter steigenden Inflation. Die Inflationsentwicklung in den USA Mitte der 1960er- bis Anfang der 1980er-Jahre ist hierfür ein Beispiel. Jahre von zu niedrigen realen Zinsen haben zu keiner stabilen erhöhten Inflation geführt, sondern zu einer immer weiter ansteigenden Inflation, bis die Fed Anfang der 1980er-Jahre der Inflationsspirale durch drastisch hohe Zinsen ein Ende bereiten musste.
Eine höhere Inflationsrate würde auch im wirtschaftlichen Entscheidungsprozess eine einflussreichere Rolle spielen als es bei 2 % der Fall wäre – so zum Beispiel bei Tarifverhandlungen in Form höherer Lohnforderungen. Dies würde auch dadurch unterstützt werden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die EZB nicht mehr das Ziel der Preisstabilität verfolgt, sondern eher der moderaten Inflation. Deshalb besteht zwischen 2 % und 3 % ein großer Unterschied. Bei einem 3 %-Ziel würde das lange Ende der Zinskurve mit über einem Prozentpunkt ansteigen. Schließlich würden sich Inflationsprämien ausweiten, was reale Zinsen ansteigen lässt. Da die Euro-Zone grundsätzlich niedrige reale Renditen benötigt, ist gerade aus diesem Grund ein Inflationsziel von 2 % notwendig, vorübergehend höhere Zinsen am kurzen Ende müssten hingenommen werden.
EZB in der Pflicht: Inflationsrate muss konsistent mit Inflationsziel werden
Auch wird argumentiert, die EZB könne bei einem erhöhten strukturellen Preisdruck ein Inflationsziel von 2 % kaum oder nur durch hohe und volatile Zinsen erreichen, während sie bei 3 % mehr Flexibilität hätte. Somit wäre ein höheres Ziel von 3 % auch glaubwürdiger. Doch die Effektivität einer Notenbank, und wie stark sie agieren muss, wird weniger vom Niveau, sondern von den Inflationserwartungen bestimmt. Sind Inflationserwartungen fest verankert, ist das Risiko von Zweitrundeneffekten begrenzt, die Effektivität der Notenbankpolitik ist gestärkt, und die Volatilität der Inflationsrate ist reduziert. Dies gilt bei 2 % ebenso wie bei 3 %. Allerdings nimmt mit einer höheren Inflation die Volatilität zu, was zu weniger stark verankerten Inflationserwartungen führt – vor allem kurz- bis mittelfristig. Also: Mit einem höheren Inflationsziel ist von länger andauernden Abweichungen vom Inflationsziel auszugehen, was kurz- bis mittelfristige Erwartungen beeinflussen und damit die Volatilität von Zinsen erhöhen könnte.
Doch wieviel Volatilität ist angebracht? Wie stark und wie lange darf eine Inflationsrate von ihrem Ziel abweichen? Entscheidend hierfür ist sicherlich, dass die Abweichungen die langfristige Stabilität der Inflationsrate nicht grundlegend in Frage stellt. So muss trotz Abweichungen das Inflationsziel dem richtige Erwartungswert entsprechen, was nur mit einer stationären Inflationsrate möglich ist. Gibt es deutliche Abweichungen oder Schocks, mag das Inflationsziel nicht mehr mit dem rationalen oder richtigen Erwartungswert übereinstimmen, vor allem wenn solche Schocks die Erwartungen grundsätzlich beeinflussen. Im extremen Fall gleicht die Inflationsrate dann einem „random walk“, und die statistisch richtige Prognose wäre dann allein der aktuelle bzw. jüngste Inflationswert. Dann wäre die Effektivität bzw. der Einfluss eines Inflationsziels auf die Erwartungen eliminiert, und das Inflationsziel wäre irrelevant. Doch auch wenn der Verlauf der Inflationsrate stabil ist, können ihre Abweichungen vom Ziel dennoch einen systematischen oder anhaltenden Charakter haben. In diesem Fall hätte das Inflationsziels nur für langfristige Erwartungen Relevanz, was das Risiko von Zweitrundeneffekte durch veränderte Inflationserwartungen erhöhen würde. Dies würde auch dann gelten, wenn die Schwankungen im Schnitt symmetrisch sind. So ist nicht nur das Niveau, sondern vor allem die Abweichungen vom Ziel für eine effektive bzw. glaubwürdige Geldpolitik entscheidend.
Da jedoch das Inflationsziel nur indirekt von der Notenbank beeinflusst wird und der Transmissionsmechanismus viel Zeit benötigt, müssen Abweichungen der Inflation vom Ziel nicht nur geduldet werden. Sie sind auch notwendig, um erhöhte Fluktuationen der Zinsen und damit in der Realwirtschaft zu verhindern. Um den Einfluss von Abweichungen auf Inflationserwartungen zu reduzieren, wird oftmals eine Bandbreite um das Inflationsziel definiert. So hat z. B. die Bank of England ein Inflationsziel von 2 % mit einer Bandbreite zwischen 1 % und 3 %. Doch ist die Volatilität begrenzt, ist die Notwendigkeit solch einer definierten Bandbreite fraglich. Auch nimmt der Handlungsdruck der Notenbank zu, wenn die Inflationsrate die obere oder untere Grenz erreicht, auch wenn dies womöglich nur temporär ist.
In der Euro-Zone wäre eine Bandbreite zwischen 2001 und 2007 von 1,5 % bis 2,5 % ausreichend gewesen. In der Periode 2010 bis 2019 fiel allerdings nicht nur der Inflationsdurchschnitt niedriger aus, auch die Volatilität war deutlich höher. Ein Grund für die erhöhte Volatilität ist in den Einfuhrpreisen zu finden. Diese sind nur begrenzt über den Wechselkurs durch die EZB beeinflussbar. Ein Gegensteuern hätte demnach zu deutlich stärkeren Zinsschwankungen geführt. Wird die Standardabweichung über die gesamte Periode 2010 bis 2024 geschätzt, ist sie rund 7-mal höher als für die Periode 2001 bis 2007. Die EZB hat in den Jahren nach der Finanzkrise 2007 den Fokus stärker auf realwirtschaftliche Stabilität gelegt, was angesichts des niedrigen Inflationsdurchschnitts auch durchaus zu rechtfertigen war. Eine Anhebung des Inflationsziels von 2 % auf 3 % wäre im aktuellen Umfeld erhöhter Volatilität jedoch klar kontraproduktiv, da dies die Volatilität noch weiter schüren, reale Zinsen nach oben treiben und die Glaubwürdigkeit der Notenbank untergraben würde.
Denn aktuell deuten statistische Ergebnisse an, dass infolge des Inflationsschocks ab 2022 die HVPI-Inflationsrate in der Euro-Zone nicht mehr stationär sein könnte. Deshalb ist es gerade in den kommenden Jahren wichtig, dass sich die Inflationsrate um das Inflationsziel einpendelt und volatile Ausschläge begrenzt werden, damit die statistische Stabilität der Inflationsrate nicht angezweifelt werden kann und so die Relevanz des Inflationsziels gesichert ist. Aktuell ist es also nicht der geeignete Zeitpunkt, das Niveau des Inflationsziels in Frage zu stellen oder auf eine langfristige Zielerreichung zu verweisen. Es ist auch nicht die Zeit, eine höhere Inflationsvolatilität im Glauben an eine wachstumsfördernde Geldpolitik zu verfolgen. Die IKB erwartet deshalb in den kommenden Jahren eine stabile Inflationsentwicklung, beeinflusst von einem grundsätzlich höheren realen Leitzins. Der Fokus der EZB muss auf der Inflationsdynamik liegen, was für eine graduelle Normalisierung der Geldpolitik spricht.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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