[Kapitalmarkt-News vom 9. Juni 2022]
Fazit: Die EZB bewegt sich – und doch bleibt alles beim Alten. Die Notenbank wird die Zinsen im Juli um 25 bp anheben, gefolgt von einer weiteren Zinsanhebung im September – womöglich um 50 bp. Sie betont jedoch weiterhin die Datenabhängigkeit ihrer Geldpolitik, und dies, obwohl der Inflationsdruck zunehmend Fakten schafft und weiterhin nach oben überrascht. So verharrt die EZB in ihrer Einschätzung, der Inflationsdruck würde sich auch ohne eine spürbare geldpolitische Straffung legen. Denn alles andere hätte schon längst eine spürbare Reaktion der EZB zur Folge haben müssen. Die sich abzeichnende konjunkturelle Eintrübung gibt der EZB-Erwartung jedoch zunehmend Rückenwind. Dies spricht grundsätzlich für graduelle Zinsanhebungen. Das Überraschungspotenzial für Bundrenditen ist dennoch weiter nach oben gerichtet – zumindest kurzfristig. Durch ihre Zurückhaltung verhindert die EZB jedoch eine deutliche Korrektur auf den Devisenmärkten, was ihren Inflationsausblick stützen würde. Die IKB erwartet einen Einlagenzins von 0,5 % Ende 2022.
Geldpolitik immer noch durch einschlägige Einschätzung über Inflation getrieben
Die Erwartungen an die EZB, die Zinsen zu erhöhen, nehmen Fahrt auf. So werden nicht nur für jedes verbleibende EZB-Treffen Zinsschritte (nach heute noch vier Termine im laufenden Jahr) erwartet. Der Markt spekuliert auch zunehmend über Schritte von 50 bp. Jedoch bleibt die EZB nach wie vor vage, und sie betont die Datenabhängigkeit ihrer Politik. Doch die Daten sprechen eine klare Sprache: Die Inflationsraten in der Euro-Zone überraschen weiterhin nach oben. Zwar bekräftigt EZB-Präsidentin Lagarde, dass die Teuerung nicht durch eine überhitzte Wirtschaft, sondern durch Angebotsprobleme getrieben wird. Es ist jedoch die Kombination von Angebotsproblemen und einer robusten Nachfrage, die die überraschend hohen Inflationsraten generiert und den Unternehmen bis dato robuste Margen gesichert hat.
Steigende Zinsen sind auch bei Angebotsproblemen notwendig, um den Preisdruck auf Margen und Realeinkommen umzulenken und so Zweitrundeneffekte und damit einem anhaltenden Anstieg der Inflationsrate gegenzusteuern. Eine weitere und äußerst effektive Alternative wäre natürlich eine spürbare Aufwertung des Euro. Doch hierfür müsste die EZB konkrete Zinsschritte ankündigen, die über den Markterwartungen lägen und so für Überraschungspotenzial sorgen würden. Da sich die EZB eher bedeckt hält und auf die Entwicklung der weiteren Daten verweist, ist dieses Potenzial jedoch überschaubar. Der geldpolitische Transmissionsmechanismus benötigt Zeit. Die bedeutet jedoch auch, dass graduelle Zinsanstiege kaum Einfluss auf den Inflationsprozess haben sollten.
Sicherlich stellt eine steilere Zinskurve (Bundrenditen bei über 1,3 %) bereits eine geldpolitische Straffung dar. Doch diese ist angesichts des Inflationsdrucks alles andere als ausreichend, um die Nachfrage entscheidend zu reduzieren. Allerdings bekommt die Geldpolitik gerade spürbaren Rückenwind bei der Inflationsbekämpfung. Denn die Weltkonjunktur trübt sich aufgrund der hohen Rohstoffpreise und geopolitischer Unsicherheiten spürbar ein. Die starke Inflation hat die reale Kaufkraft gesenkt, was die Nachfrage schwächt. Auch sollten Gewinnmargen der Unternehmen zunehmend unter Druck geraten – vor allem wenn der Lohndruck eskalieren sollte. Die Folgen wären dann eher in der Realwirtschaft mit steigenden Insolvenzen und Kapazitätsabbau zu sehen, und weniger in einer höheren Inflation. So mag eine graduelle geldpolitische Wende in der Tat ausreichen – vor allem wenn sich die Fiskalpolitik bei der Bekämpfung der konjunkturellen Eintrübung zurückhalten würde (s. IKB-Kapitalmarkt-News 25. Mai 2022).
Einschätzung: Auch wenn die EZB vorgibt, datenabhängig zu handeln, ist das Gegenteil der Fall. Denn sie hat weiterhin trotz eskalierender Inflation eine klare Vorstellung von dem europäischen Inflationsprozess. Diese beruht darauf, dass sich die Inflationsdynamik auch ohne effektive geldpolitische Straffung legen wird. Das sich eintrübende Konjunkturbild – auch infolge eskalierender Rohstoffpreise – stützt aktuell diese Einschätzung, zumindest was die Inflation im Jahr 2023 betrifft. Anders als in den USA scheint der europäische Arbeitsmarkt auch weniger überlastet zu sein. Schließlich ist die Erwerbstätigenquote in der Euro-Zone bereits wieder über dem Vor-Corona-Niveau.
Die entscheidende Frage ist, ob die Inflationsrate im Jahr 2023 in der Tat infolge der konjunkturellen Eintrübung ausreichend nachlassen wird, um Zweitrundeneffekte zu dämpfen. Ist dies nicht der Fall, besteht noch einiges an Korrekturpotenzial für Bundrenditen und kurzfristigem Handlungsbedarf für die EZB. Das Überraschungspotenzial für die Zins- und Renditenentwicklung in der Euro-Zone bleibt deshalb hoch – zumindest bis sich die Inflationsrate Ende 2022 abschwächt.
Pressekonferenz und geldpolitische Entscheidung
- EZB-Ankäufe im Rahmen des APP- und PEPP-Programms werden zum 1. Juli 2022 vollständig eingestellt. Jegliche Fälligkeiten werden reinvestiert.
- Die erste Zinsanhebung um 25 bp (Leitzins und Einlagenzins) wurde für die Sitzung im Juli angekündigt, eine weitere für September, wobei diese sogar bei 50 bp liegen könnte. Über den weiteren Verlauf hält sich die EZB bedeckt und spricht von einem stetigen, wenn auch graduellen Anstieg der Zinsen – in Abhängigkeit der Datenlage. Grundsätzlich bleibt somit die geldpolitische Ausrichtung der EZB noch auf Sicht eher expansiv.
- Die EZB erwartet eine Inflation im Euro-Raum von 6,8 % für 2022 und 3,5 % für 2023 – beide Werte wurden gegenüber der März-Prognose nach oben korrigiert. Das BIP-Wachstum sollte bei 2,8 % und 2,1 % in den Jahren 2022 und 2023 liegen; gegenüber der März-Prognose wurde der Ausblick nach unten angepasst. Die EZB sieht zunehmende Konjunkturrisiken für die Euro-Zone.
- Über Juli hinaus schaffen die heutigen Ankündigungen der EZB keine Klarheit über den zukünftigen geldpolitischen Kurs. Darüber hinaus sendet sie auch kein klares Signal für eine ambitioniertere geldpolitische Straffung bzw. ein proaktiveres Handeln der EZB für die kommenden Quartale. Demnach ist mit einer kurzfristigen Euro-Aufwertung nicht zu rechnen.
- Die EZB sieht das Inflationsrisiko kurzfristig weiter nach oben gerichtet. Mittelfristig könnte eine schwache Nachfrage den Preisdruck jedoch dämpfen. Steigende Zinsen bedeuten ein zunehmend herausforderndes Finanzierungsumfeld für Unternehmen sowie Konsumenten. Die EZB schätzt diese Veränderung bereits aktuell als bedeutend ein.
Einschätzung: Die IKB teilt die Einschätzung einer spürbar nachlassenden Inflation im Jahr 2023 und demnach den zögerlichen geldpolitischen Kurs der EZB. Allerdings haben die letzten Monate gezeigt, wie hoch das Prognoserisiko ist. Auch steigt das Risiko von Zweitrundeneffekten mit jeder weiteren Inflationsüberraschung an. Ob in diesem Umfeld eine graduelle geldpolitische Wende de- oder stabilisierend wirkt, bleibt deshalb abzuwarten.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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