[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 3. Dezember 2020] Im Oktober hat die EU-Kommission die Rahmenbedingungen für die neue „EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ im Rahmen des Green Deals bekannt gegeben. Insgesamt sind mehr als 50 Maßnahmen geplant, um Schadstoffe in Endverbraucherprodukten weiter zu reduzieren und auch Kombinationseffekte von mehreren in einem Produkt eingesetzten Chemikalien zu vermeiden.
Der EU Green Deal ist in seiner Gesamtheit sowohl eine sehr große Herausforderung als auch Chance für die europäische Industrie. Der Wandel der Wirtschaft soll sowohl industriepolitisch als auch durch eine stärkere Einbindung der Finanzmärkte vorangetrieben werden. Die EU stellt über ihren Haushalt und weitere Instrumente insgesamt 1 Billion € bereit, um den ökonomischen Umbau zu unterstützen. Über die EU-Taxonomie sind Fonds und Finanzinstitute angehalten, ihren Anteil an nachhaltigen Investments ab 2022 zu veröffentlichen. Die EU-Chemikalienstrategie erweitert die strenge Chemikalienregulierung innerhalb der EU nun ein weiteres Mal und wird einen bürokratischen Kraftakt der Unternehmen verlangen.
Vor allem Verbraucher sollen vor Schadstoffen geschützt werden
Der Regulierungsvorschlag von Seiten der EU-Kommission sieht die Chemikalienstrategie als wichtigen Schritt auf dem Weg zum ausgerufenen „Zero-Pollution“-Ziel. Hierfür sollen sowohl REACH (Registration, Evaluation, Authorization & Restriction of Chemicals) als auch die CLP (Classification, Labelling & Packaging of Substances & Mixtures)-Verordnung überarbeitet und verschärft werden. Im Fokus stehen Chemikalien für Verbraucherprodukte wie Babyartikel, Spielzeuge, Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmittel, Lebensmittelverpackungen und Textilien. Eingeschränkt werden soll der Gebrauch von Chemikalien, die nicht „unverzichtbar für das Allgemeinwohl“ sind. Die genaue Definition einer entsprechenden Richtlinie steht noch aus. Konkret sollen Stoffe wie endokrine Disruptoren, immunsystem- und atemwegsbeeinträchtigende Chemikalien und beständige Stoffe wie Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS), soweit sie verzichtbar sind, kurzfristig aus dem Verkehr genommen werden. Weiterhin soll dem Kombinationseffekt mehrerer Chemikalien in einem Endprodukt erstmals detailliert Rechnung getragen werden. Alles wird der Öffentlichkeit zugänglich dokumentiert und soll Verbrauchern größere Sicherheit geben. Neben der nachhaltigen Komponente soll die Strategie einen digitalen Fokus beinhalten und Chemieproduzenten beim anstehenden Wandel auch finanziell unterstützen. Bei Importen aus Ländern außerhalb der EU soll künftig stärker auf die Einhaltung der innereuropäischen Regeln geachtet werden.
Die chemische Industrie pocht auf Mitgestaltung am Runden Tisch
Industrievertreter befürchten eine schlechtere Planbarkeit für Unternehmen und somit eine verhaltene Investitionsneigung. Weiterhin kritisieren sie die Fokussierung der Gesetzesinitiative auf die Eigenschaften eines Stoffes und nicht auf mögliche Vorteile bei ordnungsgemäßer Verwendung. Nur auf europäischer Ebene angewendet, sorgen die zusätzlichen Bürden für eine vermeintlich niedrigere Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. Hohe Energiekosten und bürokratische Hürden hindern schon heute Chemieunternehmen in Deutschland und Europa großflächiger zu investieren. Auch deshalb möchte die Industrie die Einladung der Politik nutzen und am Runden Tisch für eine zielführende Nachhaltigkeitsstrategie unter Einbindung von REACH werben.
Der Vorschlag der EU-Kommission beruht im Wesentlichen auf dem Vorsorgeprinzip. Noch sind entscheidende Begrifflichkeiten nicht geklärt, sodass schwer absehbar ist, welchen konkreten Effekt die neue Regulierung auf europäische Chemikalienhersteller haben wird. Nichtdestotrotz ist eindeutig, die bürokratische Belastung der Unternehmen wird weiter zunehmen. Auch werden zukünftig einige Stoffgruppen in Europa nicht mehr hergestellt oder importiert werden. Wichtig hierbei ist, zu jeder Zeit den gesamten Produktlebenszyklus in einer konsistenten Analyse zu bewerten. Der Green Deal kann, richtig umgesetzt, weltweit Maßstäbe für eine neue Form des Wirtschaftens setzen. Allerdings gilt es die richtige Balance aus Technologieoffenheit, marktwirtschaftlicher Innovationskraft, finanzieller Unterstützung und intelligenter Regulierung zu finden. Die massiven Chancen, die sich innovativen Unternehmen eröffnen werden, sind kurzfristig von erheblichen Kosten begleitet und üben Druck auf Geschäftsmodelle aus, die nicht nachhaltig sind.
Sven Anders ist Abteilungsdirektor und Head des Sektorteams Industrials, Mobility & Construction der IKB. Er betreut insbesondere Unternehmen aus den Chemiebranche und ist hier involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Finance an der Norwegian School of Economics (NHH) hat er seine ersten beiden Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 2018 zur IKB stieß.
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