[Healthcare, Pharma, Chemicals-Information vom 27. Juli 2022]
Laut Statistischem Bundesamt hat die Chemieproduktion in Deutschland in den letzten drei Jahren kalender- und saisonbereinigt im Juni 2021 ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem sinkt die Produktion kontinuierlich. Im Mai 2022 lag der bereinigte Produktionsindex nur noch bei 93,2 Punkten (2015 = 100). Die Gründe sind komplex und viel besprochen: Covid-19, Lieferkettenprobleme, Krieg in der Ukraine, Inflation, Rezessionsängste. Gerade im internationalen Wettbewerb machen den deutschen Unternehmen sehr hohe Energie- und Rohstoffkosten zu schaffen. Laut einer aktuellen Umfrage des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) sehen 89 % der Befragten ihre Unternehmen „schwer“ oder „sehr schwer“ betroffen von Preissteigerungen für Vorprodukte. 70 % der Befragten leiden unter hohen bzw. steigenden Energiepreisen. Logistikprobleme und Engpässe bei Vorprodukten sind nur noch bei der Hälfte der Unternehmen entscheidende Faktoren.
Entwicklung von Erzeugerpreisindizes signalisiert Margeneinbußen
Während die deutschen Erzeugerpreisindizes von Anorganika und Petrochemikalien seit Mitte 2021 sehr stark gestiegen sind und im Juni 2022 mit 177 (2015 = 100) bzw. 153 angegeben werden, liegen Polymere bei 149, Spezialchemikalien bei 133 und Konsumchemikalien bei 121. Dies zeigt, dass die Einkaufspreissteigerungen gerade im Spezialitäten- und Konsumbereich zeitnah nicht vollständig weitergegeben werden können. Margeneinbußen bei Herstellern von Spezialchemikalien sind vorprogrammiert. Das wertbasierte Pricing, grundsätzlich ein Vorteil dieser innovativen Unternehmen, erweist sich in dieser Situation stark steigender Preise als Nachteil. Im Mittel zeigen die Quartals- und Halbjahresergebnisse 2022 aus der chemischen Industrie hohe und noch steigende Umsätze bei konstanten operativen Ergebnissen und somit relativ sinkenden Margen. Die hohe Working-Capital-Bindung belastet die Möglichkeiten der Unternehmen, in ihre Zukunft investieren zu können.
EU-Regulierungspakete verheißen weitere Belastungen
Derzeit liegen die Gaspreise in Deutschland bei ca. 160 € / MWh, der Strompreis bei ca. 330 € / MWh. Die Grenzkostenanbieter im Strommarkt sind demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gaskraftwerke, die einen Stromwirkungsgrad von ca. 60 % aufweisen. Alle relevanten Terminkontrakte für Strom und Gas deuten auf längerfristig hohe Preise hin. Derzeit ist § 24 des Energiesicherungsgesetzes, also die Anpassung der Gaspreise ohne Verzögerung, noch nicht aktiv. Doch sollten in einer Mangellage höhere Gaskosten der Versorger kurzfristig in der Wertschöpfungskette weitergereicht werden, drohen weitere massive Preissteigerungen bei chemischen Produkten. Doch nicht nur an dieser Stelle steht die chemische Industrie in Deutschland vor großen Herausforderungen. Weitere Nervosität wird durch die EU-Nachhaltigkeitsstrategie für Chemikalien, die genaue Definition von grünem Wasserstoff, Carbon-Leakage-Schutz und den zu langsamen Ausbau der erneuerbaren Energien hervorgerufen. Die Gesetzesvorschläge sind im Einzelnen größtenteils sinnvoll und begrüßenswert, sorgen aber wegen Detailgrad und zeitlicher Dauer für zusätzliche Unsicherheit bei relevanten Entscheidern, sodass sich wichtige Investitionsprojekte weiter verzögern.
Sven Anders ist Abteilungsdirektor und Head des Sektorteams Industrials, Mobility & Construction der IKB. Er betreut insbesondere Unternehmen aus den Branchen Chemie und Pharma und ist hier involviert in Finanzierungs- und Corporate Finance-Transaktionen der Bank. Nach dem Master of Science in Finance an der Norwegian School of Economics (NHH) hat er seine ersten beiden Berufsjahre bei einer Unternehmensberatung absolviert, bevor er 2018 zur IKB stieß.
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