[Kapitalmarkt-News vom 8. April 2022]
Fazit: Volkswirtschaftliche Modelle und darauf basierende Simulationen möglicher Worst-Case-Entwicklungen sind sinnvolle Grundlagen für Entscheidungen. Allerdings muss Modellstabilität gewährleistet sein. Auch müssen alle Einflüsse möglicher Entwicklungen ausreichend modellierbar sein. Doch gerade bei und nach unvorhergesehenen Ereignissen – wie der Krieg in der Ukraine – ist dies nicht immer der Fall. Mögliche Reaktionen auf politische Entscheidungen sind dann kaum durch Modelle ausreichend darzustellen.
Deshalb ist es auch aktuell wenig sinnvoll, Modellschätzungen als Grundlage für politische Entscheidungen wie einen möglichen Stopp von Energieimporten aus Russland zu nutzen. Dies gilt auch für Worst-Case-Szenarien, gerade wenn diese bei Politikern als feste Größe gesehen werden und so den Anschein vermitteln, das Risiko sei nicht nur messbar, sondern auch durch fiskalpolitische Gegenmaßnahmen kontrollierbar. Fakt ist jedoch: Der durch konkrete Werte vermittelte Grad an Sicherheit ist in Krisenzeiten einfach nicht gegeben.
Der Krieg in der Ukraine bzw. mögliche Auswirkungen von Sanktionen und Gegenreaktionen haben zu regen Prognoserevisionen und Simulationen von Modellen geführt. Die Wachstumsprognosen für Deutschland wurden allgemein um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten angepasst. Bei diesen Prognosen ist unterstellt worden, es komme zu keiner weiteren Eskalation des Krieges und vor allem zu keinen Versorgungsengpässen. Die Prognoseanpassung ergäbe sich also vor allem aufgrund höherer Energiepreise und eines dadurch niedrigeren globalen Wachstumsausblicks bzw. einer höheren Inflation, die wiederum das Realeinkommen und damit den privaten Konsum belaste. Insgesamt deuten diese Prognosen also auf ein überschaubares Risiko für eine Rezession hin. Denn wenn die deutsche Wirtschaft statt um 3,5 % nur um 2 % wächst, ist das letztendlich politisch vermittelbar und wenig entscheidend.
Aktuell werden erste Simulationsergebnisse für ein Gaspreisembargo präsentiert. In Abhängigkeit der fiskalischen Reaktion – denkbar ist zum Beispiel eine breite Anwendung der Kurzarbeiterregelung – wäre infolge eines unmittelbaren Energielieferung-Stopps aus Russland mit einem BIP-Rückgang zwischen 2,5 % und 6 % zu rechnen, so Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats. Auch hier scheint also der Einfluss überschaubar, vor allem wenn die Fiskalpolitik gegensteuern würde. Derartige Zahlen deuten auf ein kontrollierbares Risiko hin und erwecken den Anschein, die Krisenfolgen seien mess- und kontrollierbar (siehe auch IKB-Kapitalmarkt-News 31. März 2022).
Dabei sind aktuell alle Prognosen mit hohem Risiko bzw. großer Unsicherheit behaftet. Deswegen werden explizit Worst-Case-Szenarien definiert und analysiert, die das Abwärtsrisiko einordnen sollen. Doch gelingt dies in ausreichendem Maße? In der Beschreibung der Szenarien sowie der Resultate wird zwar auf die unterschiedlichen Annahmen verwiesen und extreme Annahmen als Maßstab dafür genommen, dass es sich um Worst-Cases handelt. So gibt es zum Beispiel Szenarien über extreme Ölpreisentwicklungen oder extreme Versorgungsengpässe bzgl. Gas. Aber die zu Grunde liegenden Modelle selbst werden weniger beleuchtet und bleiben grundsätzlich unverändert. Schließlich ist der Unterschied zwischen den Szenarien ausschließlich durch die unterschiedlichen Annahmen definiert. Doch wie stabil sind diese Modelle gerade in einem Worst-Case bzw. in einer Krise, die eine Volkswirtschaft vor nie dagewesene Herausforderungen stellt?
Modelsimulationen/-ergebnisse werden nicht nur durch Annahmen, etwa zur Gasversorgung bestimmt, sondern auch durch die Modellstruktur bzw. die Sicht auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge, die in einem Modell angenommen und geschätzt werden. Nehmen wir den Inflationsprozess als Beispiel: In vielen Modellen wird Inflation durch Kostendruck modelliert. Variablen sind Lohnstückkosten, Importpreise und Konjunktur- bzw. Margenentwicklung. In einem monetaristischen Modell wäre hingegen die Geldmenge ein bedeutender Treiber, während bei Modellen über langfristige Inflationstrends demografische Entwicklungen des Arbeitsmarktes im Fokus stehen würden. Langfristiges Gleichgewicht, verzögerte Marktbereinigung, Gewinn- und Nutzenmaximierung, rationale Erwartungen oder adaptives Lernen sind Annahmen, die Modelle und ihre Dynamiken prägen. So gibt es auch nicht das eine richtige Modell, weder aktuell noch im Rückblick. Je nach Ausgestaltung werden die Anpassungsdynamiken unterschiedlich sein. Dies gilt vor allem für plötzlich auftretende Schocks, die eine Verhaltensänderung und damit Instabilität in den Modellen mit sich bringen. Dies war sicherlich auch bei der Corona-Pandemie der Fall. Doch in welchem Maße Anpassungen stattfinden, ist oftmals unbekannt bzw. erst spät erkennbar.
Der Krieg in der Ukraine hat einen hohen Grad an Unsicherheit und damit ein nicht einschätzbares Risiko. Das mögliche Verhalten wirtschaftlicher und politischer Akteure in Reaktion auf neue Entwicklungen oder Krisen kann durch Modelle nur unzureichend abgedeckt werden. Folglich führen solche Entwicklungen zu Veränderungen der empirisch geschätzten Beziehungen. Oftmals sind diese auch nicht modelliert. So mögen Handelsbeziehungen und die Vernetzung der Industrie untereinander bekannt sein. Wie Unternehmen und Verbraucher sowie Investoren auf eine Eskalation des Krieges in der Ukraine reagieren werden, ist weniger klar. Ohne Frage besteht aktuell eine erhöhte Modellunsicherheit, da strukturelle Veränderungen die Identifikation der wahren Folgen und Reaktionen erschwert. Dies gilt auch dann, wenn sich durch eine Krise grundsätzlich ein neues Umfeld bzw. neue Rahmenbedingungen ergeben und damit eine nachhaltige Verhaltensänderung eintritt. So ist die Nennung einer BIP-Wachstumsspanne zwischen -2,5 % und -6 % infolge eines Energieimportstopps aus Russland sicherlich sinnvoller als die Nennung einer konkreten Zahl. Allerdings wird auch mit dieser Wachstumsspanne der Eindruck vermittelt, mit einem BIP-Rückgang von 6 % sei der Worst-Case erreicht, und fiskalische Gegenmaßnahmen würden diesen Worst-Case weniger wahrscheinlich machen. Das kann zu der irrigen Annahme führen, die Folge bzw. der Worst-Case aus solch einer politischen Entwicklung wäre überschaubar bzw. kontrollierbar. Egal ob Punktprognose oder -spanne und damit Worst-Case-Alternative, die Präsentation von Zahlen vermittelt aktuell den trügerischen Eindruck von Sicherheit, was die politische Handlungsbereitschaft womöglich erhöhen könnte.
Unterschiedliche Modelle und Meinungen deuten darauf hin, ein Energieembargo gegenüber Russland entspräche dem Worst-Case mit einem deutlichen BIP-Verlust für Deutschland in Höhe von 6 %. Mögliche politische Gegenreaktionen mit weiteren negativen Folgen für die Entwicklung des BIP in Deutschland sind aber überhaupt nicht abschätzbar. Deshalb sind extreme bzw. Worst-Case-Szenarien aktuell schwer zu definieren – auch wenn das unterliegende Modell stabil bleiben würde. Ein Engpass bei der Gasversorgung wäre nie ein isoliertes Ereignis, sondern würde mit eskalierenden geopolitischen Risiken, Sanktionen und Gegensanktionen einhergehen, die überhaupt nicht abzuschätzen sind. Die Folgen einer Entscheidung für Energiesanktionen gegen Russland wären also um Einiges weitreichender und komplexer, als es durch Lieferketten allein dargestellt werden könnte. Auch hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass die Wirkung fiskalischer sowie geldpolitischer Reaktionen auf Krisen nicht zu unterschätzen ist. Zwar berücksichtigen das viele Modelle – zum Beispiel würden Staatsausgaben infolge eines BIP-Rückgangs steigen und automatische Stabilisatoren greifen. Doch das Ausmaß der Maßnahmen ist oft nicht ausreichend modelliert, da Regierungen und Notenbanken häufig neue Wege gehen, die wiederum Anstoß weiterer Entwicklungen sind. Dies wurde in der Corona-Pandemie und der daraus folgenden hohen Inflationsrate sehr deutlich. Schließlich ist die Teuerung nicht nur Folge von Rohstoffpreisentwicklungen, sondern auch von einer fiskalischen und geldpolitischen Krisenpolitik, die über das Jahr 2020 hinaus angehalten hat. Somit mag sich das Risiko eines Energieimportstopps aus Russland nicht nur im BIP-Verlauf spiegeln, sondern vor allem in der Inflationsentwicklung, was wiederum bedeutende Verteilungseffekte mit sich bringen würde.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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