[Kapitalmarkt-News vom 12. Juli 2021]

Fazit: Offizielle Schuldenquoten und Zinsbelastungen der Staaten haben seit der Euro-Krise und insbesondere seit der Corona-Pandemie einen reduzierten Informationsgehalt. Dafür verantwortlich ist die EZB, die durch ihre Bilanzausweitung zum größten Gläubiger der Euro-Staaten geworden ist. Infolgedessen liegt die für die Schuldentragfähigkeit relevante Schuldenquote der Euro-Staaten eher bei ca. 70 % und nicht bei 100 % des BIP. Befürchtungen von Tilgungsproblemen bzw. einer Bilanzreduzierung der EZB sind nicht angebracht, da die EZB nur in einem Umfeld von robustem Wachstum bzw. konjunktureller Überhitzung entsprechend agieren würde.

Deshalb ist die Schuldenthematik im Euro-Raum um Einiges weniger kritisch zu sehen, als es offizielle Schuldenquoten und Zinszahlungen auf den ersten Blick signalisieren. Im Gegenteil: Die EZB hat – anders als in der Finanzkrise – den entscheidenden Schritt zur Schuldentragfähigkeit einzelner Euro-Staaten und damit auch zu einer handlungsfähigen Fiskalpolitik geleistet.

Hohe Staatschuldenquoten stellen kein Risiko für Wachstum dar, …

Die Staatsschuldenquoten sind in Folge der Corona-Krise gemäß offizieller Statistik deutlich gestiegen, und wie nach der Finanz- und Euro-Krise nimmt die Besorgnis über deren Implikationen für Wirtschaftswachstum, Schuldentragfähigkeit und die zukünftige Fiskalpolitik zu. Hohe Schulden belasten das Wachstum, da der Staat private Investitionen verdrängt, so die klassische volkswirtschaftliche Theorie. Doch die Wahrheit ist weit entfernt von dieser Aussage. Weder verdrängen höhere Staatsschulden private Investitionen, noch führen sie zu steigenden Zinsen und hemmen damit Investitionen. Es muss nicht gespart werden, damit investiert werden kann. Investiert wird, wenn die Nachfrage da ist. Die benötigte Liquidität stellen Banken bzw. Notenbanken zur Verfügung. So gibt es auch keine Abwägung zwischen Staatskonsum und privaten Investitionen, die zu höheren Zinsen führen könnte. Der Verweis auf eine maximal akzeptable Höhe der Schuldenquote ist aktuell ebenfalls von wenig Bedeutung. Denn die Schuldenquoten verlieren in Anbetracht der Bilanzausweitung der EZB grundsätzlich an Aussagekraft.

… vor allem weil die EZB die effektive Schuldenquote deutlich reduziert hat

Zwar sind die Schulden in Form von ausstehenden Anleihen deutlich angestiegen. Doch ein immer größerer Teil davon liegt bei der EZB bzw. bei den nationalen Euro-Notenbanken, wo sich effektiv weder eine Schuldenlast noch ein Refinanzierungsrisiko ergibt.

Die EZB ist dank der Ankaufprogramme PSPP und PEPP inzwischen der größte Gläubiger aller Euro-Staaten geworden. Das Euro-System bzw. die lokalen Notenbanken besitzen zwischen 20 und 40 % der emittierten Anleihen ihrer Staaten. Das durch den Kapitalmarkt zu finanzierende Anleihevolumen ist demnach nicht bedeutend höher als vor der Corona-Krise! Damit das vorerst so bleibt, darf die EZB ihre Bilanz nicht zurückfahren, bzw. sie sollte die Anleihen nicht dem Kapitalmarkt zurückgeben und damit die Geldmenge reduzieren. Dies würde aber nur dann geschehen, wenn Wachstum und Inflation die Schuldenquoten sowieso sinken lassen würden und eine straffere Geldpolitik nötig wäre. Die Bank of Japan z. B. hält inzwischen rund 50 % der emittierten Anleihen des japanischen Staates. Und noch immer kämpft sie eher mit De- als Inflation. Der Grund hierfür ist, dass Inflation eben nicht nur ein rein monetäres Phänomen ist. Geldmengenwachstum, dass Vermögenspreise treibt und liquides Anlagevermögen steigen lässt, führt weder zu Güterpreisinflation noch zu realem Wachstum (siehe IKB-Kapitalmarkt-News 10. Mai 2021), da es keine effektive Nachfrage in der Wirtschaft erzeugt.

Ende 2020 betrug die offizielle Schuldenquote der Euro-Zone 98 %. Wird der von der EZB gehaltene Anteil herausgerechnet, ergibt sich eine Schuldenquote von knapp über 70 % und damit das Niveau von vor der Finanzkrise. Die Geldpolitik der EZB hat also nicht nur den Schuldenanstieg in Folge der Corona-Pandemie neutralisiert. Zusammen mit robustem Wachstum nach der Euro-Krise hatte sie die effektive Schuldenquote sogar auf ein Niveau von vor der Finanz- und Euro-Krise gesenkt. Anstatt knapp über 11 Bio. € lag die für die Schuldentragfähigkeit relevante Verschuldung im Euro-Raum bei nur rund 8 Bio. €, während die EZB in den letzten Jahren knapp über 3 Bio. € absorbierte. Allein im Jahr 2020 und infolge der Corona-Pandemie hat die EZB Anleihen von fast 1 Bio. € aufgekauft, bis März 2021 sogar rund 1,4 Billionen Euro, was fast dem gesamten Anstieg der Euro-Schulden um 1,08 Bio. € im Jahr 2020 entspricht. Die effektive Verschuldung von rund 8 Bio. € Ende 2020 entspricht in etwa dem Schuldenniveau von 2010.

Die Corona-Pandemie hat Prinzipien der Sparpolitik in Frage gestellt. Schuldenquoten sind zwar deutlich angestiegen, doch anders als nach der Finanzkrise bleiben die Renditen der Euro-Staaten relativ niedrig. Warum? Weil die EZB seit der Draghi-Aussage „whatever it takes“ und vor allem mit dem Ausmaß des PEPP-Programms zu einer effektiven Notenbank der einzelnen Euro-Staaten geworden ist. So ist die Sorge, dass sich mit eskalierenden Schuldenquoten wieder eine Euro- und damit Schuldenkrise entwickeln könnte, unbegründet. Auch hat die Pandemie eine Investitions- und Wiederaufbauinitiative in Europa forciert, die der Euro-Zone in den kommenden Jahren viel Rückenwind geben sollte. Jegliche Diskussion über Sparen, Defizitziele und fiskalische Konsolidierung ist deshalb unangebracht. Die Euro-Zone hat ein strukturelles Nachfrageproblem, wie am Handelsbilanzüberschuss zu erkennen ist. Der Konsum verläuft unter dem Potenzialwachstum. Hinzu kommt die zunehmende Bedeutung der Finanzindustrie, die Geld für Investitionen in die Realwirtschaft zu spekulativen Finanzinvestition umlenkt. In dieser Situation und nicht nur in einer Krise sind Notenbanken sowie der Staat gefordert, ausreichend effektive Nachfrage zu schaffen.

Infolge der konjunkturellen Erholung und graduellen Reduzierung des PEPP-Programms ist von steigenden Renditen auszugehen; und auch deutsche 10-Jahres-Renditen sollten in den nächsten 6 bis 12 Monaten wieder anziehen. Birgt dies die Gefahr einer instabilen Schuldentragfähigkeit? Nehmen die Zinszahlungen des Staates zu, was unweigerlich mit höheren Renditen der Fall sein wird, muss der Staat einen Primärüberschuss erwirtschaften, um die Schuldenquote zu stabilisieren. Liegt ein zunehmender Anteil der Staatsanleihen jedoch bei der Notenbank, sinken dadurch die effektiven Zinszahlungen. Zwar bezahlt der Staat weiterhin die Coupons auf seine Anleiheemissionen. Gewinne der Notenbanken fließen allerdings zurück in die Staatskassen. Nur die Couponzahlungen außerhalb der Notenbank stellen eine effektive Zinslast dar. Dies bedeutet wiederum, dass die eigentliche Zinslast überschätzt wird und der effektive Zinssatz niedriger ist. Grundsätzlich werden sich Renditen sowieso nur dann nachhaltig erhöhen, wenn die Konjunkturentwicklung den Raum dafür gibt. Die Sorge vor steigenden Schuldenquoten und steigenden Renditen ist unbegründet, da Schuldenquoten nur in Anbetracht eines schwachen Wirtschaftswachstums zulegen, was niedrige Renditen mit sich bringt.

Schuldenquote wie auch effektive Zinsrate sind Konzepte, die immer weniger Informationsgehalt haben, wenn es darum geht, die Schuldentragfähigkeit des Staates zu beurteilen. Doch was ist, wenn die Notenbank ihre Bilanz zurückfahren muss? Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich Konjunktur und Inflation als außerordentlich robust erweisen. Dann würde die Schuldenquote aber sowieso sinken. Außerdem ist es fraglich, ob die Notenbank so agieren würde. Die durch die Bilanzausweitung geschaffene und aktuell deutlich ansteigende M3-Geldmenge sorgt eher für Vermögens- als Güterpreisinflation. Also: Nur wenn die Wirtschaft zu überhitzen droht, muss ihr die Notenbank das Geld entziehen. Wie argumentiert, sinkt aber dann auch die Schuldenquote aufgrund des kräftigen BIP-Wachstums.

Corona-Pandemie hat Geldpolitik neu ausgerichtet – und das ist auch gut so

Der Werterhalt des Geldes wird oft als höchste Priorität der Notenbanken postuliert. Diese Forderung wurde durch die Definition von Inflationszielen und die operative Unabhängigkeit der Notenbank in den letzten 25 Jahren unterstützt. Geldentwertung wurde verteufelt und noch immer finden Protagonisten des Goldstandards Zuhörer. Das dahinterstehende Ideal ist weiterhin eine Notenbank, deren Geldpolitik wenig Volatilität aufweist bzw. eher passiv ausgerichtet ist und so einen glaubwürdigen Anker darstellt. Friedman hat immer wieder so argumentiert: Handele die Notenbank aktiv und überambitioniert, führe dies nur zu Inflation. Auch aktuell ist der Glaube fest verankert, dass die Notenbank wieder zu einer normalen bzw. passiven Geldpolitik zurückkehren sollte.

Zwar wird die EZB als Retter in der Not gesehen, mit dieser Rolle der EZB fühlen sich viele Volkswirte dennoch nicht wohl. Gleiches gilt für die Schuldenquoten. Sie steigen notgedrungen, um die Wirtschaft ans Laufen zu bringen bzw. sie zu stützen. Doch sobald dies erreicht sei, bedürfe es einer Konsolidierung, um wieder „ordentliche Verhältnisse“ zu schaffen. Diese Gedanken dokumentieren sich auch in der Schuldenbremse. Doch die zu Grunde liegenden Referenzwerte sind nicht die Richtigen. Wirtschaftliche Stabilität ist nicht dann gegeben, wenn die Schuldenquoten niedrig sind, die Notenbank ihrem Prinzip der Passivität nacheilt, die Arbeitslosigkeit aber hoch ist, bzw. nötige Staatsausgaben und Investitionen fehlen. Es gibt auch keinen Hangover nach dem Prinzip, was in der Krise ausgegeben wurde, muss nachher wieder eingespart werden. Die Notenbank hat das Monopol der Geldschöpfung und ihr Einfluss auf die Realwirtschaft ist langfristig nicht neutral. Hierfür sind die Erfahrungen aus der großen Depression ein mahnendes Beispiel. Es geht aber auch nicht darum, dass die Notenbanken anhaltend billiges Geld drucken sollen, sie sollen vielmehr Krisen effektiv bekämpfen, sodass das darauffolgende Wachstum gefördert und nicht durch hohe Schuldenquoten belastet wird.

Die Corona-Pandemie hat weltweit Notenbanken gezwungen, neue Wege zu gehen. Wie so oft bedarf es einer Krise, um die Bereitschaft zu haben, Prinzipien zu hinterfragen und das in der jeweiligen Situation angemessene zu tun. So ist die Corona-Pandemie ein positiver Katalysator, wenn es darum geht, die EZB und andere Notenbanken aus ihrer selbst auferlegten Gedankenfestung zu befreien. In der Euro-Krise musste das Euro-System erst am Abgrund stehen, bevor die EZB bereit war, alles Notwendige zu tun. Jetzt überschreitet sie womöglich sogar das Notwendige und gibt der Fiskalpolitik trotz steigender Schuldenquoten zunehmend Raum für eine wachstumsorientierte Politik.


Ausgewählte Quellen:

  • Stephanie Kelton: The Deficit Myth. Modern monetary theory and how to build a better economy.
  • Hyman Minsky: Stabilisierung an unstable economy.
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