[Kapitalmarkt-News vom 2. Juni 2022]
Fazit: Ein Boykott von Gas oder Metallen aus Russland belastet die deutsche und europäische Wirtschaft. Dies kann weder im Interesse Deutschlands sein, noch im Interesse der Ukraine. Im Gegenteil, die Ukraine braucht wirtschaftlich starke Partner, die sie beim Widerstand gegenüber Russland und danach beim Wiederaufbau unterstützen.
Langfristig muss das Ziel sein, die Marktstellung Russlands nicht durch Sanktionen zu reduzieren, sondern durch eine globale Angebotserweiterung bei Rohstoffen. Rohstoffembargos belasten zunächst vor allem die sanktionierenden Länder, während andere Länder sogar vom Überangebot profitieren – vor allem mittel- bis langfristig. Das führt wiederum zu Wettbewerbsverzerrungen. Deshalb ist Deutschland gut beraten, seine Rohstoffabhängigkeit grundsätzlich zu diversifizieren, bevor Sanktionen als politisches Druckmittel auf breiter Basis angewandt werden.
Die Bundespolitik steht in der Kritik, sich bei Rohstoffen zu sehr von Russland abhängig gemacht zu haben. Das stellt die deutsche Wirtschaft nun vor die Herausforderung, zwischen neuen politischen Zielen und wirtschaftlicher Realität lavieren zu müssen und bringt Geschäftsmodelle der deutschen Industrie – gerade auch der rohstoffintensiven Industrien – in Bedrängnis: Erhalten die Unternehmen ihre Handelsbeziehungen mit Russland aufrecht, so belastet das ihre politische und gesellschaftliche Wahrnehmung. Wird hingegen die Rohstoffzufuhr gekappt, steht womöglich der gesamte Wertschöpfungsprozess am Standort Deutschland auf dem Prüfstand. Schließlich ist Russland nicht nur Exporteur wichtiger Energieträger, sondern auch von Metallrohstoffen.
Der Krieg in der Ukraine erfordert eine klare Distanzierung der internationalen und deutschen Wirtschaft von der russischen Aggression. Doch das Problem ist ein grundsätzlicheres. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land, das vor allem Rohstoffe bzw. Güter mit einer geringen Wertschöpfung importiert. Nur bei einem hohen Grad der Spezialisierung kann die Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit behaupten und können Unternehmen globale Marktanteile trotz eines niedrigen deutschen Potenzialwachstums verteidigen. Der Versuch eine größere Importunabhängigkeit zu erreichen, würde hohe Ineffizienzen mit sich bringen und wäre gerade bei Rohstoffen schon mangels Verfügbarkeit bzw. Alternativen unrealistisch.
Der Industriesektor in Deutschland weist im Vergleich zu anderen entwickelten Ländern eine hohe Wertschöpfung auf. Rohstoffe im allgemeinen und Metalle insbesondere sind dabei notwendige Inputfaktoren, um den deutschen Wachstumsmotor aufrecht zu halten bzw. nachhaltig die Existenz und Bedeutung des Industriestandorts zu sichern. Die oftmals kritisch gesehene Abhängigkeit von Rohstoffimporten ist also andererseits wichtiger Wachstumsimpuls für ein Land mit niedrigem Potenzialwachstum bzw. wenigen natürlichen Ressourcen.
Während der globale Markt bei Öl oder Kohle eine Diversifikation ermöglicht und so die Unabhängigkeit von einzelnen exportierenden Ländern erleichtert, ist es bei Gas und manchen Metallen schwieriger. Auch ist die Möglichkeit, Gas in der Industrie durch andere Rohstoffe zu ersetzen, eher überschaubar. Schätzungen deuten auf ein Substitutionspotenzial von ca. 8 % für die allgemeine und zwischen 10 und 12 % für die Metallindustrie hin. Deshalb wird Deutschland seine Abhängigkeit bei Gas gegenüber Katar und den USA spürbar erhöhen müssen, um diejenige von Russland verringern zu können. Das mag aktuell als weniger belastend eingeschätzt werden; das Grundproblem besteht aber weiterhin: Die deutsche Industrie ist bei vielen Rohstoffen auf die Zulieferung durch eine Handvoll Länder angewiesen. Auch sind Rohstoffmärkte oftmals durch eine oligopolistische Marktstruktur geprägt; es gibt also jeweils ein paar große Spieler, die den Weltmarkt beliefern. Somit gibt es zwar einerseits Alternativen zu den aktuellen Lieferanten; die weltweite Sanktionierung eines Zulieferers würde aber kurzfristig zu spürbaren Preisanstiegen und globalen Produktionsrückgängen führen. Gerade bei einigen Metallen ist Russland solch ein Oligopolist.
Rohstoffexportierende Länder sind zudem oftmals Schwellenländer, in denen Demokratie, Menschenrechte und Umwelt häufig eine untergeordnete Rolle spielen. Wo eine höhere Wertschöpfung fehlt, kann kein breit basierter Wohlstand entstehen und der Kampf um Wohlstand diktiert die gesellschaftliche Ordnung – oftmals zu Lasten der dortigen Bevölkerungsmehrheit und der Umwelt. Hier sind Russland wie China keine Ausnahmen. Braucht Deutschland Metalle, die nur von einer Handvoll von Ländern geliefert werden können, ergeben sich jedoch kaum Alternativen und es kann ein Konflikt zwischen sozialen sowie politischen Zielen und wirtschaftlichen Realitäten entstehen. Dieses grundsätzliche Dilemma geht weit über die deutsche Russlandpolitik der letzten Jahre hinaus. Denn auch die durch den Krieg in der Ukraine angestoßenen neuen Versorgungsbeziehungen könnten sich in ein paar Jahren als politisch ungewollt erweisen. Bereits aktuell steht Katar wegen der dortigen Menschenrechtssituation in der Kritik, während das Fördern von Flüssiggas durch Fracking – beispielsweise in den USA – als äußerst umweltschädlich gilt.
Sanktionen, also der Versuch durch wirtschaftliche Kosten politische Veränderungen zu induzieren, haben sich im historischen Vergleich bestenfalls als nur teilweise erfolgreich erwiesen. Je geringer die Kosten für das Land sind, das die Sanktionen ankündigt und je höher die Kosten für das sanktionierte Land sind, desto nachhaltiger und effektiver scheinen Sanktionen zu wirken. Erfolgreiche Voraussetzungen für weitere, rohstoffbezogene Sanktionen sind aktuell jedoch kaum gegeben. Denn die hohe Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von russischen Rohstoffen deutet auf signifikante kurzfristige Kosten hin, während der kleine Anteil von direkt profitierenden Akteuren in Russland auf überschaubaren Einfluss von Sanktionen auf die breite Bevölkerung deutet. Politischer Druck kann so kaum erzeugt werden. Auch wird der Einfluss von Sanktionen auf Russland durch Länder wie China oder Indien untergraben. Dies gilt vor allem für Rohstoffe wie Öl, deren Lieferung keine aufwändige Infrastruktur benötigt. Auch sollte die Bundesregierung nicht das durch Sanktionen verursachte Risiko für die heimische Wirtschaft unterschätzen – auch wenn Modellschätzungen einen messbaren und überschaubaren Einfluss unterstellen. Denn die Folgen eines weitreichenden Embargos gegen Russland sind nicht abschätzbar – unter anderem, weil Verhaltensänderungen in Folge von Krisen kaum vorhersehbar sind.
Die Lösung für verlässliche Rohstoffimporte aus dem Ausland liegt weniger in der Sicherung langfristiger Lieferbeziehungen. Denn diese sorgen nicht für größere Sicherheit, sondern verstärken eher die Abhängigkeit. Auch bestehen oftmals Lieferbeziehungen zu Ländern mit instabilen politischen Strukturen, die sich schnell ändern können. Die Lösung für mehr Versorgungssicherheit liegt also eher in der Diversifikation. Da die Einfuhr von Rostoffen und Produkten mit niedriger Wertschöpfung für das deutsche Wirtschaftswachstum unvermeidlich ist, ist es umso wichtiger, die Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern grundsätzlich zu reduzieren. Entscheidend ist mehr Globalisierung und damit Diversifikation – gerade in Rohstoffmärkten mit oligopolistischen Strukturen, bei denen also ein einzelnes Land den Markt entscheidend beeinflussen kann. Denn aktuell verleiht eine solche Situation Russland Verhandlungsmacht.
Ein Boykott von russischem Gas oder Metallen hilft der Ukraine wenig, belastet aber die Fähigkeit der deutschen Industrie und der europäischen Wirtschaft im Allgemeinen, ihre Wertschöpfung zumindest kurz- bis mittelfristig aufrecht zu halten. Dies kann weder im Interesse Deutschlands noch der Ukraine sein. Im Gegenteil, die Ukraine braucht wirtschaftlich starke Partner, die ihr unter die Arme greifen –beim Widerstand gegenüber Russland wie beim Wiederaufbau nach dem Krieg. Langfristig muss das Ziel sein, die Marktstellung Russlands nicht durch Sanktionen zu reduzieren, sondern durch eine spürbare globale Angebotserweiterung bei Rohstoffen. Nur so sind politische Ziele und steigender Wohlstand in Einklang zu bringen. Allerdings sind hierfür höhere Rohstoffpreise notwendig – und dies auf globaler und nachhaltiger Basis. Dies wird jedoch ebenfalls nicht durch die Sanktionierung russischer Rohstofflieferungen erreicht. Denn das reduzierte Angebot betrifft nur Länder, die Sanktionen verhängen, während andere Länder sogar aus einem Überangebot aussuchen können – zumindest mittel- bis langfristig. Das führt wiederum zu Wettbewerbsverzerrungen. Deshalb tut Deutschland gut daran, seine Rohstoffabhängigkeit grundsätzlich zu diversifizieren, bevor Sanktionen als politisches Druckmittel auf breiter Basis angewandt werden.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Zudem lehrt der promovierte Volkswirtschaftler an der Nelson Mandela University in Südafrika. Zuvor arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen.
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