[Kapitalmarkt-News vom 4. Oktober 2021]
Fazit: Lieferengpässe sind sicherlich für die schwachen Produktionszahlen der letzten Monate mitverantwortlich. Sie bieten aber keine Erklärung für die nun schon seit dem Jahr 2018 anhaltende Schwäche der deutschen Industrieproduktion, die immer weniger positive Impulse aus der Weltwirtschaft erhält.
Die Automobilindustrie spielt hierbei sicherlich eine entscheidende Rolle. So kann die seit Anfang 2018 stagnierende globale Pkw-Produktion der deutschen Hersteller die negativen lokalen Effekte aus Produktionsverlagerungen, globaler Kapazitätsausweitung und anhaltender Spezialisierung am Standort Deutschland nicht mehr auffangen.
Für eine Erholung der gesamten deutschen Industrie ist deshalb nicht nur eine Belebung der Weltwirtschaft notwendig, sondern auch eine stärkere Investitionsbereitschaft am Standort Deutschland. Es geht darum, globale Wachstumsimpulse besser für den lokalen Standort zu nutzen. Somit liegt die langfristige Lösung in Deutschland selbst – und weniger in fehlenden Halbleitern aus Asien. Ob die neue Bundesregierung ein positiver oder negativer Katalysator sein wird, bleibt abzuwarten.
Divergierende Dynamiken ersichtlich
Für das aktuelle Jahr hat die OECD ihren Wachstumsausblick für die deutsche Wirtschaft nach unten revidiert. Als ein Grund werden Lieferengpässe genannt, die die Industrie aktuell und womöglich auch noch im kommenden Jahr bremsen. Nach der deutlichen Erholung im Jahr 2020 fällt es der deutschen Industrie aktuell schwer, überzeugende Wachstumsdynamiken zu entwickeln. So befindet sich die deutsche Industrieproduktion immer noch deutlich unter dem Vor-Corona Krisenniveau. Dabei sind die Lieferengpässe das Ergebnis eines äußerst dynamischen Wachstumsbooms der globalen Industrieproduktion. Diese liegt inzwischen rund 3 % über dem Vorkrisenniveau von Anfang 2020. Auch ist die deutsche Produktionsentwicklung auch nicht erst seit der Corona-Krise träge. Bereits seit Anfang 2018 und damit deutlich vor der Corona-Pandemie verläuft die Produktion am Industriestandort Deutschland enttäuschend und deutlich schwächer als die Weltproduktion, die wieder auf den langfristigen Wachstumspfad zurückgekehrt ist. Die aktuelle deutsche Produktionsschwäche folglich nicht nur auf Lieferengpässe zurückzuführen.
Die chinesische Industrieproduktion ist seit Anfang 2020 um fast 5 % gestiegen und hat die globale Erholung spürbar vorangetrieben. Auch andere asiatische Industrieländer wie Südkorea haben hiervon profitiert. China, Südkorea sowie die Weltindustrieproduktion zeigen somit einen ähnlichen kräftigen Erholungsverlauf. Die Entwicklungen in Deutschland und Japan verlaufen hingegen schwächer – auch wenn die Industrieproduktion in Japan ebenfalls das Vor-Corona-Niveau erreicht hat. Deutschland lag im Juli 2021 saisonbereinigt jedoch noch 2,5 % unter dem Niveau von Ende 2019. Zwar profitieren deutsche Unternehmen von dem durch China getriebenen globalen Wachstum. Für den Industriestandort Deutschland hingegen gilt dies nur begrenzt. Die Globalisierung deutscher Unternehmen dokumentiert sich schon länger weniger in ihren Exporten, sondern vermehrt über die Produktionskapazitäten ihrer globalen Standorte. Das deutsche BIP-Potenzialwachstum liegt deutlich unter dem der Weltwirtschaft, was Spezialisierung aber vor allem auch Globalisierung von Produktionskapazitäten erfordert, um internationale Marktanteile behaupten zu können. Durch die Spezialisierung wurde der deutsche Produktionsstandort ein integrierter Bestandteil der globalen Produktionsketten. Dennoch ist vor allem seit 2018 eine divergierende Tendenz zu erkennen.
Der globale Wachstumsbeitrag sinkt schon länger
Die deutsche Industrieproduktion zeigt eine höhere Sensitivität zum Konjunkturzyklus als die weltweite Industrieproduktion. Dies ist auf den relativ hohen Anteil von Investitionsgütern im deutschen Produktionsmix zurückzuführen. Grundsätzlich dämpfen Produktionsverlagerungen und Spezialisierung jedoch den Einfluss von globalen Wachstumsimpulsen. Das bedeutet: Ein Prozentpunkt-Wachstum der globalen Industrieproduktion führt zu einem Plus von deutlich unter einem Prozentpunkt für die deutsche Produktion. Dies ist angesichts des niedrigen deutschen Potenzialwachstums im Vergleich zur Weltwirtschaft nicht überraschend. Die durchschnittliche Dynamik der weltweiten Industrieproduktion lag zwischen 2010 und 2021 bei fast 3 % pro Jahr, das der deutschen Industrie bei 1,7 %. Der Trend zur Verlagerung von Produktionskapazitäten und die zunehmende Bedienung der globalen Nachfrage durch ausländische Produktionsstätten lassen sich vor allem daran erkennen, dass diese Sensitivität zur globalen Industrie nicht nur unter 1 ist, sondern ständig weiter fällt. Lag sie zwischen 2000 und 2010 bei rund 0,8 %, so hat sie sich zwischen 2011 und 2017 auf unter 0,5 % reduziert. Neben anhaltender Spezialisierung und Verlagerung mag dies auch durch den zunehmenden globalen Wettbewerbsdruck erklärt werden. So benötigt die deutsche Industrieproduktion eine immer kräftigere weltwirtschaftliche Dynamik für stabiles Wachstum. Eine Phase niedrigen globalen Wachstums kann deshalb zunehmend zu einem absoluten Rückgang der deutschen Produktion führen – eine Entwicklung, welche die deutsche Automobilindustrie schon seit Anfang 2018 vorweg zu nehmen scheint.
Was ist seit 2018 passiert?
Die Automobilindustrie hat zur enttäuschenden Entwicklung der deutschen Industrieproduktion in den letzten Jahren maßgeblich beigetragen. Der Dieselskandal im Jahr 2015, die WLTP-Umstellung im Jahr 2018, der Brexit und die aktuellen Halbleiterengpässe sind nur einige der Themen, die die Angebots- und Nachfrageseite in den letzten Jahren bestimmt haben. Die Produktion der Automobilbranche zeigt seit 2017 einen durchschnittlichen jährlichen Rückgang von 8,5 %, das Verarbeitende Gewerbe von 2,4 %. Die Bedeutung der Automobilindustrie ist für die deutsche Industrieproduktion um einiges höher als für die globale. Eine Wachstumsverlangsamung der Automobilindustrie wird somit unweigerlich zu einer Divergenz zwischen der deutschen und der globalen Industrieproduktion führen.
Die Produktion deutscher Pkw-Hersteller ist infolge von Lieferengpässen aktuell unter Druck – dies gilt für die Produktion im In- wie Ausland. Allerdings ist bei der Produktion am Standort Deutschland seit Anfang 2018 und klar gegen den Trend der globalen Fertigung ein struktureller Rückgang zu erkennen (s. Abb. 1). So lag die lokale Produktion der deutschen Pkw-Herstellern im ersten Halbjahr 2021 rund 40 % unter dem Niveau des ersten Halbjahrs 2017. Die Auslandsproduktion deutscher Hersteller befindet sich hingegen nur 7 % unter dem Niveau von 2017. Angesichts der Bedeutung der Automobilindustrie für den Industriestandort Deutschland kann die seit Anfang 2018 zu erkennende Abkopplung der gesamten deutschen industriellen Fertigung von der globalen zu einem erheblichen Teil auf die Automobilindustrie zurückgeführt werden. Doch was sind die Gründe für die Schwäche der Automobilbranche am Standort Deutschland?
Bei einer schnell wachsenden Weltwirtschaft gehen Spezialisierung von Produktionsketten sowie die daraus resultierende Verlagerung von Kapazitäten ins Ausland nicht unbedingt mit einem Produktionsverlust einher, da neue Wachstumsfelder für gezielte Wertschöpfung entstehen bzw. das allgemeine Wachstum die Kapazitäten erweitert. So schafft globales Wirtschaftswachstum Raum für Spezialisierung und fängt den Produktionsverlust in Folge von Abwanderung etwa aus Kostengründen auf. Fällt das globale Wirtschaftswachstum jedoch niedrig aus, mag dies die Spezialisierungs- und Abwanderungseffekte nicht mehr ausgleichen und die inländische Produktion sinkt. Weil der Einfluss der globalen auf die heimische Produktion in den letzten 20 Jahren deutlich gesunken ist – Rückgang der Elastizität von 0,8 auf unter 0,5 – ist zu vermuten, dass der Beitrag des globalen Wirtschaftswachstums für die deutsche Industrieproduktion die negativen Effekte der Abwanderung bereits in den letzten 20 Jahren nur teilweise kompensieren konnte. Bei einem sinkenden bzw. niedrigem deutschen Potenzialwachstum mag dies jedoch nicht überraschen bzw. sogar notwendig erscheinen.
Für die deutsche Automobilindustrie scheint der gesamte globale Wachstumsbeitrag inzwischen negativ auszufallen. Zwischen 2010 und 2017 hielt sich die lokale Produktion relativ stabil und wurde durch die wachsende globale Nachfrage gestützt. Über viele Jahre konnten Kapazitätsabwanderung und Spezialisierung durch das allgemeine Wachstum erfolgreich kompensiert werden. Seit Anfang 2018 stagniert jedoch die globale Produktion deutscher Automobilhersteller, was durch anhaltende Spezialisierung und Produktionsverlagerungen zu einem strukturellen Rückgang der lokalen Produktion geführt hat. So erklärt das fehlende Wachstum der weltweiten deutschen Automobilproduktion seit Anfang 2018 den Rückgang der deutschen Produktion bzw. der deutschen Industrie. Lieferengpässe spielen nur aktuell eine Rolle. Es ist die stagnierende weltweite Produktion deutscher Hersteller, die dem Automobilstandort Deutschland und damit auch dem gesamten deutschen Industriestandort zu schaffen macht.
Was tun?
Globales Wirtschaftswachstum ist nötig, um Raum für Spezialisierung zu schaffen und so den Produktionsstandort Deutschland zu sichern. Dies gilt insbesondere in einer Welt globaler Kapazitäten und Billiglohnländern. Eine Umkehr der Spezialisierung durch Rückführung der Produktion ist keine Lösung, weil das Potenzialwachstum in Deutschland eher begrenzt ist und die Wertschöpfung ausreichend hoch sein muss, um dem lokalen Kostendruck gerecht zu werden. Die Lösung ist eher, das Potenzial an Spezialisierung durch globale Investitionen am Standort Deutschland zu beschleunigen und so die globale Attraktivität des Industriestandorts Deutschlands zu sichern. Höhere Steuern, steigende Lohnkosten, etwa durch Anhebung des Mindestlohns sowie mehr Regulierung und damit höhere Transaktionskosten sind der falsche Weg. Anders ausgedrückt: Werden diese Themen die Wirtschaftspolitik bestimmen, was nach dem Ergebnis der Bundestagswahl immer wahrscheinlicher wird, und enttäuscht das globale Wirtschaftswachstum, dann ist ein anhaltender struktureller Rückgang der Industrieproduktion am Standort Deutschland auch in den kommenden Jahren ein wahrscheinliches Szenario.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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