[Kapitalmarkt-News vom 8. Oktober 2020]

Fazit: Das Brexit-Referendum hat vor 4 Jahren Fakten geschaffen. Doch der oftmals proklamierte wirtschaftliche Einbruch Großbritanniens hat bis dato nicht stattgefunden und sollte auch im Falle eines harten Brexits nicht so stark ausfallen, wie oftmals vermutet.

Denn der notwendige Anpassungsprozess der britischen Wirtschaft hat schon lange begonnen, angetrieben von der nun schon 4 Jahre anhaltenden Schwäche des britischen Pfunds. Angebotsseitig dämpft die Abwertung den Einfluss von Zöllen auf britische Exporte und stärkt damit die preisliche Wettbewerbsfähigkeit des Investitionsstandortes Großbritannien. Nachfrageseitig führt die Abwertung zu einer Anpassung des Lebensstandards der britischen Bevölkerung; das reale Einkommen und damit der Konsum wachsen nicht mehr so dynamisch. Das wäre wiederum notwendig, um die durch die Abwertung gewonnenen Wettbewerbsvorteile nachhaltig zu sichern.

So mag ein No-Deal-Brexit die britische Wirtschaft kurzfristig belasten. Die mittelfristige Entwicklung wird jedoch weniger kritisch verlaufen.  

Krisen sind ausgeblieben, der Anpassungsprozess hat begonnen

Im Juni 2020 waren 4 Jahre seit dem Brexit-Referendum vergangen. Damals hatten fast alle Volkswirte infolge des „Yes“ einen deutlichen Einbruch der britischen Konjunktur vorausgesagt. Auch bezüglich des mittelfristigen Wachstums bestand der generelle Konsens, die britische Wirtschaft werde einen deutlich niedrigeren Wachstumspfad einschlagen. Doch der erwartete Einbruch ist trotz der anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit bis dato ausgeblieben. Zwar war das BIP-Wachstum der letzten 4 Jahre mit durchschnittlich 1,6 % geringer als in den Jahren davor; ein wirtschaftlicher Einbruch sieht aber anders aus. Es handelt sich eher um einen graduellen Anpassungsprozess in der wirtschaftlichen Dynamik. Grund für das niedrigere Wachstum ist in erster Linie das rückläufige private Konsumwachstum. Dies wiederum ist nicht zuletzt auf die steigende Inflationsrate infolge der Abwertung des britischen Pfund und das damit zusammenhängende sinkende reale Einkommen zurückzuführen. Auch die privaten Ausrüstungsinvestitionen zeigen ein niedrigeres Wachstum, was mit dem generell niedrigeren BIP-Wachstum zusammenhängt. Der Brexit-Prozess hat also erste Anpassungsdynamiken in Großbritannien eingeleitet. Ein Einbruch bei den privaten Investitionen aufgrund der anhaltenden Unsicherheit über die finale Ausgestaltung des Brexits hat bis dato jedoch ebenfalls nicht stattgefunden.

Das britische Pfund als entscheidender Signalgeber

Das Brexit-Referendum – und die daraus resultierende britische Geldpolitik – haben zur Abwertung des Pfund geführt. Abgesehen von einer kurzen Zeit während der Finanzkrise war das britische Pfund in den letzten 55 Jahren nie so schwach wie seit dem Jahr 2016. Diese Schwäche hält nun schon seit 4 Jahren an, was zu einer bedeutenden geldpolitischen Stimulierung und zu anhaltenden preislichen Wettbewerbsvorteilen Großbritanniens geführt hat. Seit dem dritten Quartal 2016 ist das Pfund preisbereinigt durchschnittlich um effektiv 12 % schwächer als zwischen den Jahren 1990 und 2016. Gegenüber dem durchschnittlichen Euro/Pfund-Devisenkurs der Jahre 2000 bis 2016 beträgt die Abwertung seitdem sogar fast 20 %, wobei das Pfund bereits nach der Finanzkrise eine Schwäche gegenüber dem Euro gezeigt hat.

Im Gegensatz zu vielen preisbereinigten effektiven Devisenkursen, die sich über die Zeit als eher stabil erweisen, lässt sich beim britischen Pfund ein stabiler Abwertungstrend statistisch bestätigen. Dies stärkt die These, dass die Abwertung und der dadurch erzeugte preisliche Wettbewerbsvorteil durchaus nachhaltig sein könnten.

Die Abwertung dämpft die negativen Konsequenzen aus möglichen Zollanhebungen und höheren Transaktionskosten infolge eines No-Deal-Brexit. Ohne Abkommen wird die EU ihre Zölle für Großbritannien auf Grundlage der WTO-Regeln erheben. Diese liegen für Nicht-Agrarprodukte im Durchschnitt bei knapp unter 3 %. Autos würden allerdings mit 10 % belastet werden. Dennoch wird die im Jahr 2016 gestartete und immer noch anhaltende Abwertung des Pfunds mehr als ausreichen, um den preislichen Wettbewerbsverlust infolge von Zollanhebungen gegenüber der EU und anderen Ländern, deren Handel unter die WTO fällt, zu kompensieren. Großbritannien als internationaler Produktionsstandort sollte somit kaum von den Auswirkungen des Brexit betroffen sein. Da es sich um eine anhaltende reale Pfund-Abwertung handelt, haben lokale Preise und damit auch Löhne bis dato nur begrenzt auf die Abwertung und steigende Importpreise reagiert. Beim britischen Konsumenten dürfte die Abwertung zu einem niedrigeren Konsumniveau sowie -wachstum und damit perspektivisch auch zu einem niedrigeren Lebensstandard führen. Ein steigendes Produktivitätswachstum könnte dem perspektivisch entgegenwirken, ohne die Vorteile der Abwertung durch eine steigende Inflation zu verwässern.

Wirtschaftlicher Einfluss: das Pfund als Treiber und Dämpfer der Brexit-Auswirkungen

Doch wie bedeutend ist das Pfund für die britische Wirtschaft bzw. den britischen Export? Nicht überraschend ist der Devisenkurs ein statistisch signifikanter Einflussfaktor für britische Importe wie Exporte – eine Erkenntnis, die für die meisten Länder gilt. Doch für eine Volkswirtschaft, deren Offenheitsgrad vor Corona bei über 60 % lag, spielt der Devisenkurs auch eine entscheidende Rolle im Inflationsprozess. So ist die Inflationsrate infolge der Abwertung des britischen Pfunds im Jahr 2017 deutlich angestiegen, während die Importpreisinflation in den Jahren vor der Abwertung negativ war.

Langfristig beeinflusst ein internationaler preislicher Wettbewerbsvorteil das Investitionsverhalten und damit den Wettbewerbsstandort Großbritannien. In der Vision von Theresa Mai, die nach dem Referendum von einem Aufbruch der britischen Industrie sprach, sollte ein schwaches Pfund deshalb sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Da das schlimmste Szenario – ein Handel nach WTO-Regeln – bekannt ist und die Abwertung des Pfund nachhaltig zu sein scheint, sind klare Anreize für export-orientierte Investitionen geschaffen und das Argument „anhaltender Unsicherheit belaste den Standort Großbritannien sind womöglich“ immer weniger zutreffend. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass private Investitionen seit dem Referendum nur einen geringen Rückgang erlebt haben.

Empirische Analysen der IKB bestätigen, dass die Abwertung und anhaltende stabile Schwäche des Devisenkurses die privaten Investitionen in Großbritannien seit dem Jahr 2016 gestützt haben. Wäre der Devisenkurs bei seinem Niveau geblieben und hätte nicht um rund 16 % abgewertet, so läge das durchschnittliche Wachstum der privaten Investitionen rund 1 Prozentpunkt niedriger. Da die Abwertung Exporte fördert bzw. Importe dämpft, wäre ohne die Abwertung auch das BIP-Wachstum geringer, was die Investitionen zusätzlich belasten würde. Die relativ stabilen privaten Unternehmensinvestitionen resultieren also teilweise aus der Abwertung des Pfund und den dadurch gewonnenen Wettbewerbsvorteilen.  

Eine Abwertung sorgt nicht für höhere Produktivität und damit für langfristiges Wachstum. Vielmehr setzt sie einerseits die lokale Kaufkraft unter Druck und sorgt andererseits für preisliche Wettbewerbsvorteile. Für eine Neuausrichtung der britischen Wirtschaft nach dem Brexit scheinen beides notwendige Maßnahmen zu sein. Die Angebotsseite profitiert davon langfristig, vor allem wenn flexible Löhne eine Aufwertung des Pfund durch Inflation verhindern. Die Nachfrageseite hat in solch einem Szenario allerdings das Nachsehen, da realer Lohndruck die Binnennachfrage belastet. Industrie und Wirtschaft müssen sich neu ausrichten, um Wachstumsimpulse zu generieren. Der britische Konsument hingegen muss sich kurz- bis mittelfristig auf einen geringeren Lebensstandard einstellen. Der Devisenkurs hat den notwendigen Anpassungsprozess eingeleitet – im positiven wie im negativen Sinne.

Lehren von Brexit für die Corona-Krise – Veränderungen annehmen und nicht verhindern

Die letzten 4 Jahre zeigen anhand der britischen Wirtschaftsentwicklung, dass worst-case-Szenarien kaum stattfinden können, wenn sich eine Volkswirtschaft durch veränderte Preise anpassen kann. Krisen und darauf reagierende Marktsignale setzen einen Anpassungsprozess in Gange, der zwar kurzfristig die Wirtschaft belasten mag, langfristig jedoch eine Verhaltensänderung einleitet. Dies ist auch eine wichtige Lektion für die aktuelle Coronakrise. Die durch einen wirtschaftlichen Einbruch und anhaltende Unsicherheit induzierte Verhaltensänderung wird zu einer „neuen“ Normalität führen und nicht zu anhaltend niedrigem Wachstum führen. Entscheidend ist, wie flexibel eine Volkswirtschaft ist und wie unternehmerisch die wirtschaftlichen Akteure handeln. Ausschlaggebend ist auch, dass nicht eine Rückkehr zur „alten“ Normalität im Fokus stehen darf. In einer Krise ist das natürlich eine Herausforderung. Denn auf der einen Seite gilt es, Implikationen der Krise abzumildern. Auf der anderen ist aber auch eine schnelle Transformation sicherzustellen. Die Verlängerung des Kurzarbeitergelds bis Ende 2021 zeigt, wie es eher nicht gemacht werden sollte (siehe IKB-Kapitalmarkt-News vom 14. September 2020).

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