[Consumer & Retail-Information vom 19. August 2022]

In den letzten Wochen vergeht kaum ein Tag ohne neue Meldungen, die das zweite Halbjahr 2022 und den Ausblick auf das kommende Jahr für die gesamte Wertschöpfungskette im Bereich Nahrungsmittel und Getränke als besonders herausfordernd beschreiben.

Inflation belastet Konsum, Verbraucherinnen und Verbraucher reagieren schnell und deutlich

Die Corona-Pandemie ist in den Hintergrund gerückt, stattdessen bestimmt mittlerweile der starke Anstieg der Verbraucherpreise, insbesondere für Energie und Lebensmittel, die öffentliche Diskussion und beeinflusst die Konsumstimmung. Der GfK-Konsumklimaindex für August rutschte auf -30,6 Punkte ab. Seit Beginn der Erhebung für Gesamtdeutschland im Jahr 1991 gab es keinen schlechteren Wert. Die Inflationsrate lag im Juli bei +7,5 % und damit lediglich leicht unterhalb des Vormonats. Trotz Entlastungsmaßnahmen stiegen die Preise für Energieprodukte binnen Jahresfrist um +35,5 %, Nahrungsmittel und Getränke für die privaten Haushalte verteuerten sich gegenüber Juli 2021 um +14 %. Der Kaufkraftentzug durch die Teuerung ist massiv.
Die beschlossenen Entlastungspakete der Bundesregierung können nur teilweise kompensieren und entlasten verschiedene Personengruppen in unterschiedlichem Umfang – laut Beispielrechnung Grundsicherungsbezieher um 235 €, Rentner um 362 €, berufstätige Singles um 425 € und eine Doppelverdiener-Familie mit zwei Kindern um ca. 1.150 €. Die in dieser Woche beschlossene Gasumlage in Höhe von 2,4 Ct/kWh wiederum entspricht für einen Haushalt mit 16.000 kWh Jahresverbrauch einer zusätzlichen Mehrbelastung von 345 €, wird jedoch durch die Senkung der Mehrwertsteuer auf 7 % für Gas kompensiert. In Summe rechnet die IKB auf Jahressicht für eine vierköpfige Familie mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen in Höhe des bundesdeutschen Durchschnitts von ca. 3.600 € mit einem Kaufkraftentzug von 2.900 bis 3.500 €. Mehrausgaben für Nahrungsmittel und Getränke schlagen hierbei mit 1.000 bis 1.200 € zu Buche.

Wie reagieren die Verbraucherinnen und Verbraucher? Sie verschieben Ausgaben zwischen den verschiedenen Konsumkategorien und auch innerhalb dieser. Zudem reduzieren sie ihre Budgets und orientieren sich bei ihrer Wahl der Einkaufstätten und der Preislagen um. Im Einzelnen:

  • Nach GfK-Erhebung liegen die Umsätze im Lebensmitteleinzelhandel nach dem ersten Halbjahr um ca. 3 % unter Vorjahresniveau, was eine Normalisierung zu den Zuwächsen 2021 ist, aber preisbereinigt gleichzeitig ein Rückgang aufgrund von Kaufzurückhaltung.
  • Gegenüber Sortimentsspezialisten, SB-Warenhäusern und Vollsortimentern gewinnen LEH-Discounter Marktanteile, liegen aber real ebenfalls im Minus.
  • Das GfK Consumer Panel hat parallel zu den Verschiebungen bei den Vertriebsschienen für das erste Halbjahr 2022 einen rückläufigen Marktanteil für Markenartikel bei FMCG um 1,3 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum ermittelt. Die Dynamik hat im Mai und Juni zugenommen, im Juni lag der Marktanteil der Markenartikel nur noch bei 56,5 % gegenüber 59,6 % im Juni 2021. Die IKB geht in einem anhaltend herausfordernden Umfeld von einer Fortsetzung des Trends aus.   
  • Die Food-Vollsortimenter stemmen sich gegen diese Entwicklung und betonen in der Endverbraucherkommunikation ihr Handelsmarkenangebot „auf Preisniveau der Discounter“ und erhöhen gleichzeitig die Promotionsaktivitäten.
  • Die Entwicklung der FMCG-Warengruppen spiegelt die genannten Entwicklungen. In der weit überwiegenden Zahl der Sortimente zeigen sich auf Basis von GfK-Daten Mengenrückgänge, begleitet von gestiegenen Preisen. Und trotz steigender Preise liegen die Umsätze im ersten Halbjahr unter Vorjahresniveau, insbesondere bei Frischeprodukten. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Fleisch- und Wurstwaren in der Kombination aus Basiseffekt zum Vorjahr mit Gastro-Lockdown, Konsumverzicht, Witterung mit Grillsaison ab April/Mai und strukturell sinkender Fleischnachfrage. Die Bilanz für die ersten sechs Monate 2022: -6 % im Umsatz und -12 % (!) in der Menge.          

Im Außer-Haus-Geschäft zeigt sich 2022 bislang ein kontinuierlicher Aufholprozess gegenüber den Corona-bedingten Umsatzausfällen der beiden vorangegangenen Jahre. Das Gastgewerbe liegt nach Aussage des Branchenverbandes DEHOGA im ersten Halbjahr 2022 aber nominal immer noch 13,4 % unter dem Umsatzniveau des Vorkrisen-Halbjahres 2019. Nach dem ersten Quartal waren es allerdings noch ca. -25 % nominal und annähernd -33 % real (Gaststättengewerbe -19 % / -29 %; Caterer und Sonstige Verpflegungsdienstleister -22 % / -33 %). Die Entwicklung im Lebensmitteleinzelhandel ist demnach zum Teil auch der Erholung in der Gastronomie geschuldet, die IKB geht für den weiteren Jahresverlauf von einer geringeren Dynamik aus, da sich die Einsparungen der Verbraucherinnen und Verbraucher nach den Reisemonaten im Sommer wahrscheinlich auch in reduzierten Restaurantbesuchen und -ausgaben niederschlagen werden.

Das Exportgeschäft der deutschen Lebensmittelindustrie steht für rund 35 % der Branchenumsätze, die Kompensation eines rückläufigen Inlandsabsatzes ist für viele Hersteller allerdings nur schwer möglich. Anhaltende Unsicherheiten auf geopolitischer Ebene sowie die steigenden Lebenshaltungskosten in wichtigen europäischen Absatzmärkten kommt erschwerend hinzu. Die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) hat in ihrem Konjunkturreport vom 5. August die anhaltenden Unsicherheiten herausgestellt und für das erste Quartal 2022 bei einem nominalen Umsatzplus von +7,8 % und Preissteigerungen um +15,6 % ein reales Umsatzminus für die Branche in Höhe von -6,9 % gemeldet. Eine seriöse Prognose zum Auslandsgeschäft für den Verlauf des Gesamtjahres erscheint uns aktuell in der Breite der Branchen nicht möglich.          

Uneinheitliche Entwicklung bei verschiedenen Inputfaktoren, Kostendruck bleibt

Ebenfalls von anhaltend hoher Unsicherheit und Volatilität geprägt zeigen sich die Rohstoffmärkte. In einzelnen Segmenten entspannt sich die Situation, z. B. beim Weizen; oder es zeigt sich eine Seitwärtsbewegung nach deutlichen Erhöhungen, z. B. bei Zucker oder Kakao; das Niveau bleibt jedoch im Mehrjahresvergleich hoch.
Bei tierischen Produkten ist die Lebensmittelindustrie ebenfalls mit ausgesprochen hohen Beschaffungspreisen konfrontiert. Der Kurs für Schlachtschweine liegt in dieser Woche bei 2,00 €/kg, für einen Liter Milch zahlten deutsche Molkereien im Juli annährend 60 Ct, teilweise sogar darüber.

Auch bei Verpackungsmitteln (Glas, Papier-basiert, Paletten) und Logistik bewegen sich die Preise auf hohem Niveau, die IKB geht auf Basis aktueller Informationen von einer Beruhigung bzw. einem tendenziellen Rückgang aus. Das Umfeld bleibt ausgesprochen volatil und anfällig für exogene Schocks, wie sich derzeit bei Düngemitteln zeigt, wo die Notierungen zuletzt aufgrund des Krieges in der Ukraine nochmals stark angezogen haben, und wie bei Futtermitteln, wo Dürre bedingt, Mindererträge bei Futtermais zu erwarten sind.     

Ebenfalls nach wie vor unsicher ist die Situation bei der Gasversorgung, die für die Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie von besonderer Bedeutung ist. Nach der chemischen Industrie verbraucht die Nahrungs- und Futtermittelwirtschaft das meiste Gas aller Sektoren und ist im Energiemix mit einem Gasanteil von 59 % am Energieverbrauch ebenfalls exponiert. Die Teuerungen bei Gas treffen die Branche entsprechend hart. Zudem ist eine kurzfristige Umstellung auf alternative Energieträger nur bedingt möglich. Darüber hinaus ist bislang nicht eindeutig geklärt, ob die Ernährungsindustrie im Falle einer Gaskontingentierung im Rahmen des EU-Notfallplans Gas umfänglich als kritischer Wirtschaftsbereich eingestuft wird. Im Paper der Europäischen Kommission „Safe Gas for a Safe Winter“ vom 20. Juli ist “Food“ zumindest zur Selektion für die EU-Mitgliedsstaaten aufgeführt, neben Gesundheit, Sicherheit und Infrastruktur. Fraglich ist u.E. allerdings weiterhin, ob hierbei über alle Segmente (bspw. Molkereiprodukte, Backwaren, Mineralwasser, Süßwaren oder Spirituosen) gleiche Kriterien gelten. 

Strukturelle Trends zum Teil gebremst, zum Teil beschleunigt

In Summe wird die Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie für den Rest des Jahres bis in das Jahr 2023 hinein von Kostendruck bei gleichzeitig zurückhaltendem Konsum begleitet werden. Entsprechend bleiben die dringlichen Themen Kosten- und Working-Capital-Management, die Sicherung der Rohstoffverfügbarkeit und Produktionssicherheit. Kapazitätserweiterungen sowie Produktinnovationen und -einführungen verlieren temporär an Bedeutung. Bei den strukturellen Trends beobachten wir parallel zwei gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite ist die Nachhaltigkeits-Orientierung der Verbraucher derzeit gebremst, aber nicht ausgebremst, wie beispielsweise das – reduzierte – Wachstum bei Milchalternativen zeigt. Auf der anderen Seite gewinnen Branchentransformationen, z. B. in der Fleischwirtschaft, an Dynamik, ebenso wie Investitionen in alternative Energiequellen wie Solar, Wind und Biomasse, sowie Ressourceneffizienz. 2023 sollte sich der Konsum stabilisieren, einhergehend mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und einer geringeren Inflation. Damit werden auch wieder die Themen in den Vordergrund rücken, die bestimmend für die Entwicklung der letzten Jahre waren: insbesondere das Thema Nachhaltigkeit und die entsprechende Ausrichtung der Geschäftsmodelle.       

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Dr. Klaus Bauknecht                  Volkswirtschaft

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