[Kapitalmarkt-News vom 18. Dezember 2019]
Wachstumsbremsen sind nicht nur global, sondern lokal, …
2019 waren vor allem internationale Entwicklungen wie die Brexit-Verhandlungen, Handelskonflikte oder die weltweite Absatzflaute der Automobilindustrie Treiber der konjunkturellen Eintrübung Deutschlands. Perspektivisch scheint die größere Gefahr für das Wirtschaftswachstum allerdings vom Inland auszugehen. Zu den Themen, die hierbei eine Rolle spielen, gehören die hohen Energiekosten, eine steigende Steuerlast und der zunehmende Arbeitnehmerentgeltanteil am Volkseinkommen (Arbeitnehmerquote). All diese Entwicklungen belasten die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandortes Deutschland.
Die letzten Jahre waren ebenfalls durch anhaltend hohe Lohnsteigerungen, eine steigende Erwerbsquote und eine moderate Produktivitätssteigerung gezeichnet. Als Folge stieg der Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen auf das Niveau von Anfang 2000 und befindet sich auf einem ähnlich hohen Niveau wie vor Einführung der Arbeitsmarktreformen. In den letzten 27 Jahren war nur 2003 der Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen höher als aktuell. Doch welche Folgen ergeben sich hieraus?
Ist der zunehmende Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen eine Folge des schwachen Wirtschaftswachstums, da Fachkräftemangel und fehlende Lohnflexibilität eine zeitnahe Anpassung des Arbeitnehmeranteils durch Stellenabbau verhindert hat? Oder ist er die Ursache für das schwache Wachstum, da das Gewinnpotenzial der Unternehmen unter Druck geriet und so perspektivisch zu niedrigeren Investitionen in Deutschland führte? Beide Erklärungen scheinen Relevanz zu haben. In den Jahren vor der Finanzkrise war die gute Konjunktur Treiber des Arbeitnehmeranteils – höheres Wachstum hatte die Quote infolge zunehmender Erwerbstätigkeit und höherer Löhne wachsen lassen. Seit der Finanzkrise ist es eher die Angebotsseite: Hohe Lohnforderungen bei einer gleichzeitig hohen Erwerbsquote bremsen das Wachstum durch eine sinkende private Investitionsquote. In den letzten Jahren wurde dieser negative Wachstumstreiber durch positive Impulse vor allem aus dem Ausland überdeckt; nun wird er eher verstärkt.
Sind die Lohnforderungen das Ergebnis des Fachkräftemangels, so bestätigen die Ergebnisse die bekannte These: Der Fachkräftemangel belastet zunehmend das Wachstumspotenzial – zum einen weil es nicht genug Fachkräfte gibt, zum anderen weil durch höhere Löhne die Profitabilität des Investitionsstandorts Deutschland leidet.
… und eine Anpassung des Arbeitnehmeranteils am Volkseinkommen wird immer dringender, …
Wie kann die Quote des Arbeitsnehmerentgelts sinken bzw. das Wirtschaftswachstum perspektivisch gestützt werden? Kurzfristig ist eine Ausweitung des Fachkräfteangebots – zum Beispiel durch Einwanderung – schwer realisierbar. Es bleiben vor allem Lohnmoderation oder Stellenabbau. Beide Maßnahmen stehen auf den ersten Blick in Konflikt mit dem Fachkräftemangel. Aber 2019 ist das Produktionsniveau vor allem in der Industrie dermaßen gefallen, dass eine Verringerung der Lohnkosten trotz Fachkräftemangels immer unausweichlicher geworden ist. Dies liegt auch daran, dass sich die Industrierezession bereits länger hinzieht und nicht von kurzer Dauer zu sein scheint wie die Finanzkrise 2008/09. Eine steigende Arbeitslosenquote im Jahr 2020 könnte angesichts einer nur moderat steigenden Produktion unausweichlich sein, um die Rentabilität und Attraktivität des Produktionsstandorts Deutschland zu verbessern (s. IKB-Kapitalmarkt-News 17.07.2019). Außerdem können zusätzliche Fachkräfte aus dem Ausland nur helfen, wenn die Ausweitung des Arbeitsangebots tatsächlich zu moderateren Löhnen und damit zu einer Senkung der Arbeitnehmerquote am Volkseinkommen führt.
Ein reduziertes Potenzialwachstum bzw. anhaltender Fachkräftemangel dürften einzelne Firmen weniger berühren, da sie den Produktionsstandort durch Globalisierung von Produktionskapazitäten umgehen können. Dies ist für viele Unternehmen deshalb notwendig, weil Deutschland mit einem Potenzialwachstum von etwas über 1 % nur ein Drittel so schnell wächst wie die Weltwirtschaft und somit auf Sicht Marktanteile verlieren wird. Ein Unternehmen kann demnach seinen Marktanteil nur dadurch behaupten, indem es Produktionsfaktoren anderer Länder nutzt. So hat sich die deutsche Globalisierungsstrategie auch schon lange vom reinen Ex- und Import von Gütern hin zu globalen Produktionsketten und Produktionskapazitäten im Ausland entwickelt. Kapazitätsausweitungen im Ausland müssen nicht unbedingt nachteilig für den Standort Deutschland sein, da sie Spielraum für Spezialisierung erlauben. Bei einer Verlagerung von Wertschöpfung ins Ausland aufgrund von Wettbewerbsverlusten ist dies allerdings weniger der Fall.
… vor allem weil mit anderen Treibern kaum zu rechnen ist
Für den Industriestandort Deutschland bedeutet der steigende Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen einen klarer Wettbewerbsnachteil, da sich das Gewinnpotenzial des Produktionsstandortes weniger attraktiv gestaltet. Der anhaltend schwache Euro-Wechselkurs mag internationale Wettbewerbsverluste auf Märkten außerhalb der Euro-Zone teilweise abmildern, allerdings ist perspektivisch eine Euro-Aufwertung nicht auszuschließen. Eine nachhaltige Maßnahme, den Wettbewerbsstandort Deutschland zu stärken, wäre eine Steuersenkung, insbesondere auf Einkommen und Gewinne. Die effektive Steuerlast ist in Deutschland in den letzten Jahren allerdings trotz boomender Wirtschaft stetig gestiegen – und hat damit Lohnkosten erhöht und die Rentabilität von Unternehmen belastet. Auch aktuell scheint der Fokus der deutschen Fiskalpolitik eher auf einem ausgeglichenen Staatshaushalt als auf niedrigere Steuereinnahmen zu liegen. Dies wird der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in 2020/21 nicht helfen.
Die deutsche Industrie wird das Jahr 2019 voraussichtlich mit einem Produktionsminus von ca. 4,5 % beenden. Erwartungen einer Stabilisierung in der zweiten Jahreshälfte haben sich nicht bewahrheitet. Ein bedeutender Treiber des Rückgangs bleibt die Automobilindustrie. Auf Grundlage positiver konjunkturzyklischer Dynamiken vor allem aus dem Ausland ist für das verarbeitende Gewerbe insgesamt dennoch von einem moderaten Wachstum von ca. 1 % in 2020 auszugehen Auch wenn diese Wachstumsrate eher enttäuschend sein mag, geht sie einher mit einer Erholung der Produktion in den kommenden Monaten und bildet die Basis für eine höhere Dynamik in 2021. Diese Prognose liegt allerdings am oberen Rande des aktuellen Prognosespektrums.
Ausblick 2020/21: Zyklischer Aufwind versus strukturelle Bremsen
Über Monate wurden Wachstumsprognosen für 2020 nach unten revidiert. Selbst der mittelfristige Ausblick wird um einiges kritischer gesehen als zu Jahresanfang. Kalenderbereinigt erwartet Mehrzahl der Volkswirte für das Jahr 2020 ein BIP-Wachstum in Deutschland von ca. 0,5 %. Einen möglichen Einbruch bzw. eine Rezession erwarten die meisten Analysten allerdings nicht. Gleichzeitig bleiben Prognostiker vorsichtig, um nicht zu ambitionierte Prognosen abzugeben. Doch trotz der aufgeführten strukturellen Wachstumsbremsen gibt es durchaus Argumente, die für eine positivere Konjunkturentwicklung sprechen:
- Die deutsche Industrie braucht keine positiven Impulse, um sich zu stabilisieren. Die konjunkturzyklische Dynamik, die ein bedeutender Grund für den Abschwung 2019 war, deutet auf eine moderate Erholungsdynamik 2020. Selbst bei anhaltenden Risiken deutet dies auf ein moderates Wachstum der Industrieproduktion hin (s. IKB-Kapitalmarkt-News 28.11.2019).
- Die Nachfragekomponenten der deutschen Wirtschaft sind intakt und auch in 2020 sollten der private Konsum sowie die Exporte ein Wachstumsfundament bilden. Der deutliche Lagerabbau, der das Wachstum im dritten Quartal belastete, ist nicht nachhaltig.
- Das ifo Geschäftsklima – der wichtigste Frühindikator für die deutsche Wirtschaft – hellt sich seit drei Monaten stetig auf. Im Dezember hat der Index deutlich um 1,2 Punkte zulegt. Dabei haben sich sowohl die Erwartungs- (+1,5 Punkte) als auch die Lagekomponente (+0,8 Punkte) klar verbessert. Insbesondere die Geschäftserwartungen der Unternehmen haben sich in den letzten Monaten deutlich aufgehellt und signalisieren eine Belebung der deutschen Konjunktur. Die Bewertung der aktuellen Lage blieb dagegen bisher nur leicht aufwärtsgerichtet.
Wie stellt sich nun der Ausblick für die Jahre 2020 und 2021 dar? Während 2019 von negativen Überraschungen geprägt war, könnte 2020 das Pendel durchaus in die andere Richtung schwingen – vor allem wenn der Brexit koordiniert und somit mit wenig disruptiven Impulsen verläuft. Das Risiko für die deutsche Wirtschaft liegt sicherlich nicht in der EZB-Zinspolitik, die die deutsche Wirtschaft durch die Entwicklung des Euro-Devisenkurs eher stimuliert. Weiterhin sind Erwartungen bevorstehender Krisen und Vergleiche mit 2008 unangebracht bzw. fundamental ungerechtfertigt. Auch wenn 2020 mit vielen Unsicherheiten startet, eins scheint mehr und mehr ersichtlich: Den konjunkturellen Tiefpunkt hat Deutschland durchschritten:
- Die IKB erwartete ein kalenderbereinigtes BIP-Wachstum in Deutschland von 0,8 % in 2020 und von 1,6 % im Jahr 2021. Diese Prognosen liegen am oberen Ende des Prognosespektrums. Sie beruhen auf der Erwartung nachlassender globaler Risiken und einer konjunkturzyklischen Erholung der Weltwirtschaft. Getrieben wird dies durch ein globales Wirtschaftswachstum, das sich in Folge einer robusten Konjunkturentwicklung vor allem in den USA und China als stabil erweist. Ein BIP-Wachstum von 0,8 % in Deutschland dürfte allerdings nicht ausreichen, einen Anstieg der Arbeitslosenquote in Deutschland zu verhindern.
- Die deutsche Industrie steht kurz vor der Bodenbildung, und es ist von einer Erholung im Verlauf des Jahres 2020 auszugehen. Um im nächsten Jahr ein Produktionswachstum der Industrie von ca. 1 % zu erreichen, bedarf es keiner zusätzlichen positiven Impulse oder Annahmen.
Fazit:
Volkswirte identifizieren aktuell viele Gründe für die schwache Konjunkturentwicklung der deutschen Wirtschaft und insbesondere der deutschen Industrie. Dazu gehören vor allem der Brexit und Trumps Handelspolitik.
Doch es gibt auch entscheidende lokale Ursachen. Hierzu gehören die steigende Steuerlast und das schrumpfende Gewinnpotenzial am Produktionsstandort Deutschland aufgrund des zunehmenden Arbeitnehmeranteils am Volkseinkommen, der inzwischen den zweithöchsten Wert seit 27 Jahren erreicht hat. Diese Entwicklung hat klar negative Auswirkungen auf das BIP-Wachstum und belastet die Investitionsattraktivität des Standortes Deutschland. Eine Senkung des Arbeitnehmeranteils durch einen Beschäftigungsabbau scheint immer unausweichlicher. Ein größeres Angebot an ausländischen Fachkräften würde dagegen nur im Falle einer moderaten Lohnentwicklung bzw. eines anziehenden Produktivitätswachstums helfen. Ebenfalls wäre eine Senkung der Steuerlast hilfreicher als ein ausgeglichener Staatshaushalt.
Dennoch erwartet die IKB auf Grundlage von globalen sowie lokalen Konjunktur- und Nachfragedynamiken im Jahr 2020 für Deutschland ein kalenderbereinigtes BIP-Wachstum von 0,8 % und ein Produktionswachstum für das verarbeitende Gewerbe von mindestens 1 %.
Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen. Zudem kommentiert er regelmäßig konjunkturelle Entwicklungen in renommierten Wirtschaftsmedien und ist mit seinen pointierten Präsentationen häufiger Gast bei Verbänden und Unternehmen. Zuvor arbeitete Klaus Bauknecht in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium.
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